Die Mission ist klar: Michaels Familie will sich einen VW Lupo 3L kaufen, und über Internet haben sie auch einen günstigen Händler ausgemacht. Dumm nur, dass dieser am anderen Ende von Deutschland sitzt, nämlich in einem Ort namens Uelsen direkt an der niederländischen Grenze, nicht weit entfernt von Enschede. Jetzt soll natürlich nicht der Preisvorteil durch horrende Überführungsgebühren aufgefressen werden – darum wollen Michael und ich das Auto selber abholen. Mit dem Wochenend-Ticket der Deutschen Bahn wollen wir hinfahren, und mit dem Auto zurück.
Gegen 8 Uhr geht es los; wir fahren mit der S-Bahn nach München, und anschließend weiter mit dem Regionalzug nach Treuchtlingen. Das Wetter ist schön; vormittags ist es noch angenehm, aber der Tag verspricht, heiß zu werden. Nach zwei Stunden sind wir in Treuchtlingen und müssen umsteigen; das Fahrradabteil ist randvoll, und die Radler haben ordentlich zu kämpfen, ihr gutes Dutzend Räder aus dem Zug zu zerren und durch die Unterführung auf den anderen Bahnsteig zu zerren, wo der Anschlusszug wartet. Aber wir haben kein Problem, denn wir haben unsere Brompton-Falträder dabei, die überall Platz finden und mit denen das Umsteigen auch kein Stress ist.
Weiter geht es über Ansbach und Würzburg nach Gemünden, wo wir zum zweiten Mal umsteigen müssen. Der Zug ist zwar modern, aber recht klein und ziemlich voll. Da hilft auch die Klimaanlage nichts – es sind einfach zu viele Leute; zudem brennt die Sonne inzwischen heftig herunter, und wir haben keinen Sitzplatz. Ein Mädel fragt uns, ob sie auf unserem Wochenend-Ticket mitfahren kann; klar. Aber Schaffner kommen hier eh kaum durch. Der Zug zockelt nur langsam dahin; kurz vor Frankfurt bleibt er sogar eine Weile stehen. Ich versuche, mir mit dem Laptop die Zeit zu vertreiben, aber kriege nichts Sinnvolles auf die Reihe. Als wir den Main überqueren, haben wir einen schönen Blick auf die Skyline von „Mainhattan“. Kurz darauf sind wir dann in Frankfurt. Endlich.
Weiter geht es mit einem Zug nach Gießen. Nachdem wir die Vororte von Frankfurt verlassen haben, erwarte ich eigentlich, dass wir ins Gebirge kommen, Taunus oder so – aber die Landschaft ist weit und flach, wir sind weiter östlich, als ich gedacht hatte. Schließlich erreichen wir Gießen, wo wir umsteigen müssen. Der Bahnhof liegt interessanterweise zwischen den beiden Bahnstrecken, die sich hier treffen.
Im nächsten Zug geht es scheinbar wieder in Gegenrichtung, aber wir zweigen Richtung Wetzlar ab. Dort fällt uns eine riesige rostige Metalltrommel auf, die sich bei einer Fabrik direkt neben der Bahnstrecke dreht – es handelt sich um das Zementwerk Wetzlar. Die Strecke wird nun immer kurviger und das Land bergiger. Hier in der Nähe verläuft ja auch die Autobahn A45, auf der ich sicher schon ein paar Mal unterwegs war. Aber von der Bahn aus kommt mir nichts auch nur irgendwie bekannt vor – weil die Autobahn auf Brücken hoch oben verläuft, während man hier im Zug tief unten durch die Täler fährt. Herborn – das sagt mir nur was, weil es da einmal ein großes Unglück mit einem Tanklastzug gegeben hat –, dann Haiger, und dann folgt ein langer Tunnel. Es ist eine richtige Modelleisenbahnlandschaft hier; und weil dieser Zug zum Glück Fenster hat, die man öffnen kann, lehnen wir uns nach draußen und lassen uns den Fahrtwind um die Nase wehen.
In Siegen müssen wir wieder umsteigen. Diesmal ist es so ein S-Bahn-artiges Gefährt. Modern, aber eng; und überfüllt mit vielen jungen Leuten, die über das Wochenende mit Wochenend-Ticket heimfahren. Und Bundeswehrler. Es ist eine schöne Gegend, aber der Zug hält oft, scheint nicht richtig vorwärts zu kommen. Ab Kreuztal wird die Bebauung geringer und das Tal enger. Irgendwann erreichen wir schließlich Hagen.
Ab Hagen geht es mit einem Doppelstockzug weiter. Mit mehr Platz; aber inzwischen hat die Nachmittagssonne für Temperaturen schätzungsweise jenseits der 30 °C gesorgt, so dass es unendlich stickig ist. Man kann nur bei manchen Fenstern den oberen Teil kippen, was bei weitem nicht ausreicht. Wie schön wäre jetzt ein Fernzug, mit dem man schneller vorankommt und der besser klimatisiert wäre. Bald verlassen wir den Rand des Sauerlandes, fahren durch ein flaches Land, über Unna und Hamm erreichen wir schließlich Münster.
Dort haben wir einige Minuten Aufenthalt; ich kaufe schnell Getränke und Eis. Mit dem nächsten Zug geht es nach Rheine und weiter über Lingen ins Emsland. Das Land wird immer dünner besiedelt, man sieht nur noch Felder und Wiesen, die schließlich von vielen Entwässerungsgräben durchzogen und mit Hecken umrandet sind. Die letzten Kilometer ist weit und breit kein Haus mehr zu sehen. Dann sind wir in Meppen, dem heutigen Ziel.
Auch wenn wir hier scheinbar am Ende der Welt sind (so wirkte es zumindest vom Zug aus), die erste positive Überraschung sind dann die Radwege. Alles recht hübsch. Wir irren irgendwie Richtung Zentrum; dort finden wir dann einen Stadtplan, auf den wir den Weg zur Jugendherberge finden. Die Sonne geht gerade unter, und die Temperaturen werden angenehmer.
Die Jugendherberge erweist sich als sehr modernes Gebäude; wir checken ein (nette helle und saubere Zimmer!), und machen uns danach nochmal auf den Weg, um die Stadt zu erkunden. Wir überqueren den Dortmund-Ems-Kanal und sind kurz darauf in der Innenstadt. Alles wird von Backstein und Klinker dominiert, wie überall im Norden; das Rathaus ist sehr dekorativ, und es gibt eine nette Fußgängerzone.
Nach dem Frühstück besichtigen wir erst einmal die Umgebung. Direkt hinter der Jugendherberge ist die Koppelschleuse; das ist eine alte Schleusenanlage am Ems-Hase-Kanal mit zwei Schleusenkammern. Sie ist nicht mehr in Betrieb; das Wasser läuft permanent über die bemoosten Schleusentore, und die Schleusenkammer ist komplett mit Wasserlinsen bedeckt. Dann zurück zur Jugendherberge, auf deren Hof sich ein großes Zeltlager mit vielen Jugendlichen befindet, und weiter in die Stadt. Wir werfen noch einmal einen Blick auf die Fußgängerzone, und radeln dann auf dem Radweg Richtung Lingen, ganz grob immer am Dortmund-Ems-Kanal entlang. Viele andere Radfahrer sind unterwegs, und wir sind fleißig am überholen auf dem engen Weg; aber dann müssen wir eine Pause einlegen: Michael hat einen Platten. In einem Wellblech-Bushäuschen machen wir die Reparatur. Es hat nicht nur den Schlauch erwischt, sondern auch im Reifen ist ein deutliches Loch; ich umwickle ihn mit Gaffa-Tape, damit nicht der Schlauch am Loch hervortritt und ungeschützt ist. Aber man kann dann eben nicht mehr hinten bremsen, weil das Tape über die Felge geht. Außerdem ist das Tape rutschig; der Reifen hat dort kaum noch Seitenhalt, so dass Michael das Tape bald wieder entfernt, nachdem ihm das Hinterrad ausgebrochen war.
Nachdem wir den Kanal überquert haben und noch ein ganzes Stück an ihm entlang gefahren sind, erreichen wir schließlich Lingen. Es ist unklar, in welcher Richtung das Zentrum ist; aber die Vorgehensweise „in Richtung Kirchturm“ funktioniert auch hier. Auf dem Marktplatz sperren wir unsere Fahrräder ab und gehen erst einmal in ein Restaurant; es ist Mittag, und wir haben Hunger. Nach dem Essen laufen wir noch etwas herum; es gibt eine ausgedehnte Fußgängerzone (natürlich alles mit Klinker gepflastert), einen Brunnen mit phantasievollen Bronzefiguren sowie einen drehbar gelagerten Stein, auf den ich dann gleich raufklettern muss.
Dann manchen wir uns wieder auf den Weg; entlang einer Schnellstraße geht es nach Westen, Richtung Nordhorn. Zum Glück gibt es einen Radweg, der teilweise etwas abseits verläuft. Auch hier sind wieder relativ viele Radler unterwegs – oft mit Hollandrad, was für uns ungewöhnlich ist, weil wir aus Bayern eine Mountainbike-Monokultur kennen. Manche haben sogar ein Radio am Lenker. Die Sonne brennt schon den ganzen Tag herunter, es wird immer heißer – zum Glück kann ich bei meinem kleinen Rucksack die Trinkflasche während der Fahrt erreichen, während Michael immer erst absteigen muss. Und wir kommen auch nicht zügig voran, weil Michael unterwegs noch einmal einen Platten hat. Endlich erreichen wir dann Nordhorn; an einer Tankstelle am Ortseingang kaufen wir erst einmal etwas zu trinken. Dann geht es weiter in das Zentrum; dort gibt es wieder eine nette Fußgängerzone, einen Fluss (die Vechte) und einen Kurpark. Wir spazieren eine ganze Weile herum und ruhen uns aus.
Inzwischen ist später Nachmittag, und wir fahren weiter. Über Neuenhaus geht es nach Uelsen, das sich als kleines, verschlafenes und etwas zersiedeltes Dorf erweist. Die Jugendherberge ist am anderen Ende, und recht idyllisch am Waldrand gelegen. Die Zimmer befinden sich in Bungalows, die u-förmig den Innenhof umrunden. Wir checken ein, duschen uns erst einmal, und lassen den Abend ruhig angehen. Die Sonne geht schon langsam unter, und wir machen einen Spaziergang in der Nachbarschaft. Die Jugendherberge liegt in der Nähe einer Feriensiedlung, und deshalb gibt es dort einen großen Platz mit Spielzeugen wie einer Kinderseilbahn, Klettergeräten und Grillplätzen. Zurück in der Jugendherberge ist inzwischen eine große Kindergruppe angekommen. Die Kinder toben herum und fragen uns ganz neugierig, wer wir sind; als sie meine Kamera sehen, wollen sie fotografiert werden und auch umgekehrt uns fotografieren. Schon erstaunlich, mit wie viel Respekt man von kleinen Kindern behandelt wird, nur weil man einige Jahre älter ist. Den Betreuerinnen ist das aber anscheinend suspekt; sie fragen uns nebulös: „Seit ihr von drüben?“ Ich weiß nicht, was sie damit meinten; vielleicht will ich es aber auch gar nicht wissen.
Nachts machen wir noch einen Spaziergang in den Ort, vorbei an der alten Windmühle; dann geht es ins Bett, damit wir morgen wieder fit sind.
Als wir losziehen, ist es noch kühl, aber die Sonne scheint schon wieder von einem wolkenlosen Himmel, und die Temperatur steigt. Wir sind früh dran, und so müssen wir eine Weile im Ortszentrum auf den Bus warten. Neben der Kirche befindet sich das Pickmäijer-Denkmal; es stellt einen Mann mit einer Sense dar. In früheren Jahrhunderten war Uelsen nämlich Durchgangsland für Wanderarbeiter, die im Sommer bei der Ernte in den Niederlanden halfen. Schließlich kommt der Bus und bringt uns nach Nordhorn.
Dort müssen wir nämlich hin, um Geld zu besorgen. In Uelsen gibt es keine passende Bankfiliale. Michael hatte die Transaktion bereits vorher beantragt, und so dauert es nur wenige Minuten, bis er das Geld für das Auto besorgt hat. Dann geht es mit dem nächsten Bus wieder zurück nach Uelsen (hier gibt es tatsächlich so etwas wie einen Busbahnhof!); dort radeln wir dann in das Gewerbegebiet am Nordrand, wo der Autohändler ist.
Der Kauf geht schnell und problemlos; wir bekommen noch eine kleine Einweisung zu Besonderheiten des 3-Liter-Lupos (beispielsweise das hydraulisch betriebene Automatik-Schaltgetriebe), und fahren dann los. Nächste Station ist Bad Bentheim. Schon auf dem Weg dorthin fällt uns auf, wie gut das Auto rollt, wenn man vom Gas geht. In Bentheim angekommen fahren wir in die zentrale Tiefgarage, um die Burg zu besichtigen.
Diese ist wirklich imposant. Sie liegt auf einer Anhöhe über dem ansonsten vollkommen flachen Land und bietet somit eine tolle Fernsicht. Durch ein Tor betritt man einen stattlichen Burghof mit einer sauber gepflegten Rasenfläche; außen herum sind die Gebäude, die man zum Teil besichtigen kann – meterdicke Wände, enge Wendeltreppen und ein Museum mit teilweise beeindruckend ausgestatteten Räumen (Kassettendecke, prächtiger Kronleuchter). In Erinnerung bleibt mir auch die Story vom Brunnen. Eine exponiert liegende Burg hat nämlich immer auch ein Problem, an Trinkwasser zu kommen, denn das befindet sich dann sehr tief – gleichzeitig ist Wasser sehr wichtig, um eine Belagerung zu überstehen. Also wurde einem Gefangenen in Aussicht gestellt, er würde freigelassen werden, wenn er einen Brunnen bauen würde. Der Brunnen ist sehr beeindruckend; der Gefangene bewältigte seine Aufgabe, aber starb nur kurz danach.
Über die Autobahn geht es dann Richtung Heimat; über Osnabrück, dann durch Bielefeld (die Kunsthalle mit der Rodin-Statue wird leider gerade renoviert) bis nach Detmold. Dort besichtigen wir das Hermannsdenkmal. Eine riesige Statue eines Kelten mit Flügelhelm und erhobenem Schwert, der den bewaldeten Höhenzug überragt. Dann fahren wir einige Kilometer weiter zu den Externsteinen; das ist eine Sandsteinformation, die aus dem umliegenden Gestein herausgewittert ist und jetzt eine freistehende Steinmauer bildet. Diese alte Touristenattraktion kann man, durch rostige Geländer gesichert, besteigen; es gibt sogar eine bogenförmige Brücke, die zwei der Felsen miteinander verbindet, und die in ihrer Jugendstil-Verspieltheit etwas deplaziert wirkt.
Dann machen wir uns endgültig auf den Heimweg; wir fahren dem Sonnenuntergang entgegen und kommen schließlich spät am Abend zu Hause an.