von Christoph Moder
Heute soll es losgehen. Endlich Urlaub, endlich den Alltag hinter sich lassen, wenn auch nur für knapp zwei Wochen – danach müssen wir lernen, uns irgendwie in Mathematik und Quantenmechanik einarbeiten, denn Anfang September erwarten uns vier Klausuren, und sie werden nicht leicht. Wir haben uns zwar schon vorher mehr oder weniger effektiv mit dem Stoff beschäftigt; aber jetzt brauchen wir eine Pause, eine Motivation, einen Neuanfang... verdammt, das Zeug ist so kompliziert und abgehoben!
Früh morgens fahre ich noch meine Eltern zum Flughafen (sie fliegen für eine Woche nach Barcelona), ruhe mich danach noch ein bisschen aus (in der Nacht habe ich kaum geschlafen, sondern bis um vier am Computer herumgebastelt) und packe dann hektisch meine Sachen. Eigentlich wollte ich schon gegen Mittag bei Michael sein, aber es wird später; gerade als ich das Haus verlasse, beginnt es zu regnen. Mit meinem riesigen vollgepackten Rucksack auf dem Rücken und noch einem kleinen Rucksack am Bauch quäle ich mein Brompton bergauf zum Bahnhof, wo ich einigermaßen durchnässt ankomme und dann endlich in der S-Bahn mein Zeug ablegen kann.
Als ich bei Michael ankomme, geht die Arbeit gleich weiter: wir bauen den Pickup um. Mit einem Flaschenzug wird in der Garage die Ladepritsche abgehoben, dann schrauben wir andere Radverkleidungen auf den nackten Hinterbau des Autos, und schon können wir die Wohnkabine holen. Dieses schwere Ding muss man zum Auto schieben (genau dann muss natürlich wieder ein kräftiger Schauer kommen) und die Stelzen mit den Rollen herauskurbeln, so dass man mit dem Pickup darunter fahren kann. Anschließend müssen nur noch die Stelzen eingezogen, die Rollen entfernt, der elektrische Anschluss hergestellt und die Verbindung zur Fahrerkabine festgeschraubt werden; danach sind wir soweit, dass wir unser Zeug und die Vorräte einräumen und Wasser einfüllen können.
Ein bisschen später als geplant sind wir „on the Road“, nach wenigen Minuten auf dem Autobahnring – und Stau! Verdammt, der war nicht angekündigt, und aus dem Radio erfährt man auch noch nicht, wie weit er geht. Und die Sonne scheint, was im Auto die Temperatur steigen lässt – vorhin wäre es uns lieber gewesen, als wir im Regen am Auto hantieren mussten. Weil erfahrungsgemäß der Verkehr zum Autobahnkreuz München Nord hin immer schlimmer wird, fahren wir bei der nächsten Ausfahrt herunter. Aber auf der Landstraße kommen wir auch nicht ordentlich voran, viel Verkehr und viele Ampeln sorgen gerade mal für ein besseres Stop-and-Go. In Ismaning biegen wir ab; das war die einzig richtige Entscheidung, denn dann ist die Straße frei, über Hallbergmoos fahren wir nach Neufahrn auf die Autobahn (neben der Flughafen-S-Bahn entlang, die direkt neben der Deggendorfer Autobahn ist). Dieser Stau hat uns doch eine Stunde gekostet.
Mit halbwegs ordentlicher Geschwindigkeit geht es weiter Richtung Nürnberg (mit Wohnkabine fährt der Pickup nur etwa 100 km/h). Die bergige Landschaft fordert eine spezielle Fahrweise: bergauf hinter den Lastwagen hinterher (die anscheinend Leistung ohne Ende haben, wir haben Mühe zu folgen), aber bergab können wir sie überholen, an jedem Berg ein paar. Im Altmühltal sehen wir neben der Autobahn die Baustelle der neuen ICE-Strecke München-Nürnberg, bei Schweinfurt den Weg, auf dem wir im Vorjahr geradelt sind (auf dem Weg zur Expo), und dann geht es dem Sonnenuntergang entgegen, an Würzburg vorbei. Im Steigerwald wird es dunkel, und dann verlassen wir endlich Bayern, irgendwo hinter Aschaffenburg. Schon erstaunlich, wir haben den ganzen Tag gebraucht, um durch Bayern zu kommen – und auch auf unserer Radtour letztes Jahr haben wir drei Tage gebraucht (und drei weitere für den Rest der Fahrt, streckenmäßig war das sogar etwas weniger).
Bald darauf sind wir im Rhein-Main-Gebiet, das uns mit einem Stau empfängt. Nichts geht mehr; ein Lastwagenfahrer hinter uns hat über Funk erfahren, dass das eine kurzzeitige Totalsperrung wegen Brückenbauarbeiten ist. Er meint, solche Dinge seien der Grund, warum Fernfahrer zu lange am Steuer säßen. Wir plaudern noch eine Weile, er empfiehlt uns einen Techno-Sender, den man hier empfangen kann (es sei der beste Radiosender weit und breit), und dann geht es schon weiter.
Wenig später biegen wir nach Frankfurt ab. Von der Mainbrücke
aus haben wir kurz einen fantastischen Blick auf die nächtliche
Skyline, und weiter geht es Richtung Innenstadt. Bevor wir uns einen
Platz zum Übernachten suchen, brauchen wir eine Tankstelle. Aber
die Stadt scheint völlig tankstellenfrei zu sein; wir folgen den
Wegweisern Richtung Messe und fahren auf einem Ring, der im Zickzack
durch einen Grüngürtel geht. Als der Messeturm in Sicht
kommt, biegen wir nach rechts ab, kommen durch ein Wohngebiet und
schließlich zum Palmengarten. Erstaunlich, wie gut man sich in
Frankfurt mit dem Stadtplan orientieren kann, man findet die Straßen
sofort und ist immer dort, wo man es vermutet. Und noch etwas:
auffällig sauber ist die Stadt. Die Wohngebiete sind genauso
hoffnungslos zugeparkt wie die Münchner Innenstadt, aber alles
ist sehr ordentlich. Zurück auf einer Hauptstraße fahren
wir Richtung Messeturm, und von dort nach Westen hinaus. Immer noch
keine Tankstelle. Wir biegen nach rechts ab, der Stadtplan endet
hier, und irren herum – endlich eine Aral-Tankstelle! Wir füllen
unseren Tank auf, und können dann in Ruhe nach einem Parkplatz
suchen. In einer Seitenstraße beim Messeturm hinter dem
Marriott-Hotel werden wir fündig; wir parken und machen uns
etwas zu essen.
Aber das heißt nicht, dass wir jetzt ins Bett gehen. Es ist Mitternacht, wir laden unsere Bromptons aus, und los geht's zu einer kleinen Stadtrundfahrt. Zuerst zum bleistiftförmigen Messeturm, dessen pyramidenförmige Spitze an den Kanten mit Leuchtstoffröhren beleuchtet ist; daneben ist eine mehrere Meter große Figur, die den gewinkelten Arm mit Hammer in der Hand langsam auf und ab bewegt. Und gleich in der Nähe finden wir etwas ganz faszinierendes: zwei große Ringe (Durchmesser mehrere Meter, aufrecht stehend), die aus roten bzw. blauen Neonröhren in einer Metallgitterstruktur bestehen und wirklich ziemlich bizarr aussehen – gerade wenn sie sich in den blankpolierten Steinplatten oder Wasser des Brunnens daneben oder der gegenüberliegenden Glasfassade spiegeln. Einfach genial, wir fotografieren und filmen, Gruppenbild mit Brompton. Weiter geht's, zum Hauptbahnhof. Schöner Bahnhof, und auch auffällig sauber. Wir schauen noch hinunter zur U-Bahn (eigentlich eine Straßenbahn, die streckenweise unterirdisch fährt) – dabei fällt uns die Geschwindigkeit der Rolltreppen auf, die deutlich höher als in München sein dürfte. Und noch ein weiteres faszinierendes Detail: der Tunnel am Ende des Bahnsteigs ist durch ein Gitter abgesperrt – Ordnung muss sein, auch unter der Erde.
Bei McDonald's ziehen wir uns noch was zu essen (kurz bevor das Restaurant schließt), und dann geht es weiter in die Innenstadt. Zwischenstopps gibt es bei einer Lichtinstallation vor einem Hochhaus und bei einer Filiale der Dresdner Bank, bei der rund um die Bäume vor dem Gebäude Lampen in den Boden eingelassen sind. Sieht auch edel aus. Überhaupt scheint man in Frankfurt ein Faible für glatt polierte Platten und Quecksilberdampflampen zu haben, und es macht sich auch wirklich gut. Richtung Zentrum folgen wir den Gleisen der Straßenbahn bis durch einen Torbogen, und landen auf einem Platz mit Bäumen und einer Kirche. Das muss die Paulskirche sein, die Form kenne ich doch aus dem Geschichtsbuch! Cool. Und wo ist der Römer? Ich habe keine Ahnung, er müsste ganz in der Nähe sein, weil die Straßenbahnhaltestelle auch so heißt... dann begreife ich, dass es dieses Gebäude direkt um die Ecke ist, an einem schönen Platz, mit einem Brunnen mit Justitia-Figur in der Mitte, und schönen Fachwerkhäusern, und alles ganz nett beleuchtet. Ja, Frankfurt ist überhaupt eine Stadt, die auch nachts sehr gut aussieht – gerade auch die Mischung aus Altem und Neuem, z.B. der Torbogen auf der Rückseite des Römers, daneben die Paulskirche, und im Hintergrund die Glasfassaden-Hochhäuser der Großbanken.
Wir fahren weiter, zum Dom (der nur so genannt wird, weil dort
einige deutsche Kaiser gekrönt wurden; aber Bischofssitz war er
nie). Auf dem Platz oberhalb ist ein in faszinierendem Rot
beleuchtetes würfelförmiges Gebäude, von dessen Dach
aus leuchtende „Finger“ aus Segmenten von
Bauschutt-Schüttröhren nach unten hängen. Unten vor
dem Gebäude findet gerade eine Vernissage oder Ähnliches
statt – ja, diese Lichtinstallation hat was.
Der Main ist unser nächstes Ziel, wo wir die beeindruckende
Skyline von einer Brücke aus fotografieren (sehr
empfehlenswert!). Anscheinend ist diese Brücke sehr flexibel
gebaut, zumindest schwingt sie spürbar, wenn ein Fahrzeug
drüberfährt, oder auch nur ein Fußgänger stramm
marschiert. Dann radeln wir noch ein Stück am Main entlang nach
Osten, um noch einen besseren Blick auf die Skyline zu bekommen, und
danach wieder in die Innenstadt, am Bankenviertel vorbei, zur Alten
Oper. Auch ein schöner Platz, auf der einen Seite die
klassizistische Fassade der Oper mit Brunnen davor (ebenfalls blank
polierter Marmor), auf der anderen Seite als Kontrast die
Wolkenkratzer des Bankenviertels. Wir bleiben eine Weile, sitzen
herum, fotografieren, und fahren dann weiter durch die
Hochhausschluchten (die haben wirklich amerikanische Dimensionen)
nach Norden zum Palmengarten, bevor wir zurück zu unserem Auto
fahren und uns ins Bett legen. Es ist immerhin schon Viertel vor
vier.
Wir müssen noch einmal in die Stadt, sehen, wie sie tagsüber
aussieht. Und am besten einmal von oben, wofür haben die auch
die vielen Hochhäuser und Türme. Zuerst probieren wir es
mit dem Messeturm, aber dieser vornehme Turm aus rötlichem Stein
ist den Angestellten vorbehalten. So ein Unsinn, als würde das
etwas ausmachen, wenn Besucher hinauf dürften – der Portier ist
sowieso da, und könnte noch etwas hinzuverdienen. Dank
http://www.skyscrapers.com wissen wir, dass man den „Main
Tower“ der hessischen Landesbank besichtigen kann, und wir
fahren dorthin. Der Eintritt kostet nur 3 DM, und mit dem sehr
flotten Lift ist man schnell oben (200m). Hier oben weht
ein ordentlicher Wind, und man hat einen schönen Überblick
über die Stadt: im Südwesten ist der Hauptbahnhof und in
der Ferne, im Wald, der Flughafen, im Westen sind die anderen
Hochhäuser, im Osten die Altstadt (Römer, Paulskirche,
Dom), etwas nördlich die Börse und die Zeil (das ist die
Frankfurter Einkaufsstraße), im Süden der Main und im
Nordosten die Alte Oper direkt unterhalb des Turms. Wieder unten,
fahren wir weiter, zur Oper, dann zur Börse (liegt ein bisschen
versteckt) mit den beiden Skulpturen, ein Bulle und ein Bär für
Hausse und Baisse, auf dem Vorplatz. Besichtigen darf man die Börse
auch; wenn man seinen Ausweis abgibt, kann man auf die
Besuchergalerie gehen, von wo aus man auf den Parketthandel
hinunterschauen kann. Aber viel los ist dort nicht; die Kursmarkler,
die in den Schranken sitzen, wirken nicht sehr gestresst, manche
lesen Zeitung, und auf dem Parkett lässt sich nur gelegentlich
ein Makler blicken (der zwar wichtigtuerisch schreit, aber das
beeindruckt niemand), ansonsten tote Hose. Der DAX stürzt auch
gerade ab, nachdem Bayer sein Bluthochdruck-Medikament „Lipobay“
vom Markt nehmen musste, die Plätze auf der Galerie, von denen
aus Fernsehteams live von der Börse berichten, sind auch alle
verwaist, und in den beiden anderen Handelssälen (im 1. Stock,
gegenüber bzw. auf der linken Seite der Besuchergalerie) dürfte
auch nichts los sein. Etwas Infomaterial liegt aus, das die
Beschriftung der großen Anzeigetafeln (Namenskürzel –
Vortageskurs bzw. Kassa – erster Kurs des Tages – Maximum – Minimum –
aktueller Kurs – Tendenz – Anzahl der Order) und andere Dinge erklärt
(z.B. dass der Kassakurs einmal um 12 Uhr festgestellt wird, bei
großen Aktien auch öfter).
Über die Zeil, die sich S-förmig durch die Stadt zieht
(und dicht mit Bäumen bepflanzt ist), fahren wir zum Dom
(nachdem sich Michael ein Tape für die Videokamera gekauft hat)
und schauen dort kurz rein. Dann geht es weiter, zum Römer und
zur Paulskirche, wo 1848 die erste deutsche Nationalversammlung
stattfand. Diese Kirche mit elliptischem Grundriss brannte im zweiten
Weltkrieg komplett aus, daher sieht sie heute etwas anders aus
als auf den alten Gemälden: unter dem Saal befindet sich jetzt
ein Stockwerk mit einer Ausstellung zur Geschichte der deutschen
Demokratie, und der Saal hat keine Galerie mehr, sondern ist
nüchtern-weiß, mit Fahnen an der Wand, einem Rednerpult
und gegenüber einer kleinen Orgel – es ist eine politische
Gedenk- und Informationsstätte, keine Kirche mehr.
Unser letztes Ziel ist der Palmengarten, das ist eine Mischung aus
botanischem Garten und Park. Im Glashaus am Eingang sehen wir uns die
Sammlung fleischfressender Pflanzen an, und gehen dann nach draußen.
Kurz gesagt, es ist sehr abwechslungsreich und bunt (so bunt, dass
der automatische Weißabgleich der Digitalkamera im Folgenden
allen Bildern einen Violettstich beschert) – und größer,
als man denkt; es gibt zum Beispiel einen Springbrunnen, dessen
Fontänen gesteuert werden und sich ineinander verschränken
und verdrehen, hinter einem weiteren Glashaus ist ein Kieshügel
mit allen Arten von Kakteen (werden im Herbst alle ausgegraben (!)
und in das Glashaus gebracht), und ein Stück weiter nördlich
ein Spielplatz mit einer Mosaik-verzierten Mauer. Ich kaufe mir ein
Eis; ein Stück weiter am nördlichen Ende des Geländes
ist ein weiteres Glashaus, wo wir auf die Schienen einer
Mini-Eisenbahn treffen, die durch den Park fährt. Wir folgen den
Schienen und kommen zu einem weiteren Glashaus mit einem Wasserfall
und tropischen Pflanzen (und einer entsprechenden Luftfeuchtigkeit)
und zu einem Berg mit Höhle und Wasserfall davor. Im daneben
liegenden Teich gibt es jede Menge Karpfen, die von den Besuchern
gefüttert werden und daher so fett sind, dass ihre
Saugrüssel-Mäuler mehrere Zentimeter im Durchmesser haben.
Durch ein weiteres Glashaus mit einer Ausstellung zu Forschern, die
auf Expeditionen Pflanzen mitgebracht haben gehen wir Richtung
Ausgang – leider haben wir keine Zeit mehr; hier könnte man es
echt aushalten, und wir haben noch längst nicht alles gesehen.
An einem Supermarkt kaufen wir schnell noch etwas ein, und radeln
dann zurück zum Auto.
Mit dem Pickup geht es dann nach Westen, wo wir uns auf der A66
durch zähflüssigen Verkehr Richtung Mainz kämpfen,
da Michael die Main-Mündung sehen will. So einfach ist
das aber nicht, denn von Hochheim findet man keine Wegweiser nach
Ginsheim, wo die Mündung ist. Irgendwann finden wir doch den Weg
(nach einem Umweg über Flörsheim :-), stellen unser Auto
ab, und radeln parallel zum Main, an Sportplätzen und dann an
der Eisenbahn entlang, zum Rhein. Der Radweg (auf dem erstaunlich
viel Verkehr ist) führt auf der Eisenbahnbrücke über
den Rhein (er ist dort so schmal, dass entgegenkommende Radler nur
gerade so aneinander vorbei kommen), direkt bei der Main-Mündung.
Von der Brücke aus fotografieren wir, aber plötzlich
schlägt ein Wolkenbruch zu; Michael rettet sich auf die andere
Brückenseite und stellt sich bei einem Backstein-Turm am
Brückenkopf unter, ich bin später dran und mich erwischt
ein Schauer. Nachdem der Regen vorbei ist, schauen wir noch zu, wie
ein Schubverband aus dem Main kommt, wendet und rheinaufwärts
weiterfährt – währenddessen kommen noch zwei weitere
Schiffe in Gegenrichtung vorbei. Das sind schon erstaunliche
Dimensionen!
Über eine Landstraße fahren wir nach Norden in den Taunus, zur A3. Neben der Autobahn ist die Baustelle der ICE-Strecke von Frankfurt über den Rhein-Main-Flughafen nach Köln; auf dieser milliardenteuren Strecke, die ein ganzes Stück teurer wurde als geplant, soll in wenigen Jahren der ICE3 mit bis zu 330 km/h (daher ohne Schotter, die Schwellen liegen direkt auf Beton) über die Berge des Taunus und des Westerwalds rasen – das wird sicher ein Erlebnis, denn die Bahnstrecke hat nur wenige Tunnel, sondern verläuft wie die Autobahn bergauf und bergab. Vorne, wo man über den Lokführer nach draußen schauen kann, dürfte man sich wie in einer Achterbahn vorkommen...
Bei Bonn geht die Sonne unter, und wir nähern uns dem Ruhrgebiet. Von der Autobahn aus merkt man das vor allem, weil alle paar Kilometer ein Autobahnkreuz kommt. Und dann ist es irgendwann auf einen Schlag vorbei. Hinter dem Ruhrgebiet ist – nichts mehr. Wir fahren über ein absolut flaches Land, zuerst noch auf der Autobahn A3 und dann auf einer Landstraße (weil wir die falsche Autobahn erwischt haben), und auch die A31 führt durchs Nichts, auf ca. 30 km keine Ausfahrt. Hier ist Deutschland zu Ende, kaum ein Haus, Ort, eine Querstraße oder Kurve. Wir fahren noch bis Ahaus, stellen uns dort an den Rand der Fußgängerzone und übernachten.
Bis nach Enschede ist es nur ein Katzensprung. Auf einer Ringstraße umfahren wir das Zentrum, bis wir zur Twente-Universität im Nordwesten der Stadt kommen. Diese Uni ist die einzige Uni der Niederlande, die im amerikanischen Campus-Stil gebaut ist, und auf diesem Gelände findet das HAL 2001 statt.
Wir parken den Pickup, gehen zur Anmeldung (im Zelt namens
„/login“). Ganz geschickt haben die es gemacht: wer seine
Karten hier kauft, kann sie gleich haben; wer vorbestellt hat, wie
wir, muss eine ganze Weile anstehen... so ein Unsinn. Aber die
Anmeldung an sich geht dann doch recht schnell. Dabei fällt mir
bei einem der anwesenden Leute ein Namensschild mit der Aufschrift
„Phil Zimmerman“ auf – ist das etwa der Phil Zimmerman, der
das Programm PGP, das der Standard für Mail-Verschlüsselung
geworden ist, entwickelt hat? Kann gut sein... aber schon ist er weg.
Wir bekommen jeder noch Infomaterial und eine Tasse, und können
uns dann einen Stellplatz auf dem Gelände aussuchen. Achja, noch
was: danach läuft uns Lara Croft über den Weg.
Beziehungsweise jemand, der sich so verkleidet hat...
Mit dem Fahrrad erkunden wir erst einmal den Campus, und treffen dabei Ray und Manuel vom Münchner CCC. Für Wohnmobile sind nur wenige Stellflächen vorgesehen, und tatsächlich haben mit Abstand die meisten Leute ein Zelt dabei (auffällig: praktisch nur Iglu-Zelte). Die zentralen Plätze rund um den Glockenturm und die großen Zelte (z.B. das Hackcenter „/home“) sind schon längst besetzt, und uns bleiben nur noch die peripheren Areale. Wir können wählen: entweder haben wir Schwierigkeiten, einen Platz in der Nähe von Strom und Netzwerk zu kriegen, oder wir parken am Ende der Welt, wo man vom restlichen HAL kaum was mitkriegt. Hinter dem großen Sportplatz finden wir schließlich eine geeignete Stelle; ist zwar etwas abgelegen (bis zu /home sind es einige hundert Meter – aber es gibt noch entlegenere Areale), aber da wir unsere Bromptons dabei haben, ist das nicht wirklich ein Problem.
Nachdem wir geparkt und den Stromanschluss etabliert haben,
schauen wir uns das Gelände genauer an. An einem Geldautomaten
ziehen wir uns die ersten Gulden, und geben sie etwas später für
das Abendessen aus: an einem Stand gibt es Pfannkuchen mit Jolt (sind
das etwa die Grundnahrungsmittel holländischer Hacker?),
Google-T-Shirts werden dort auch verkauft (keine Ahnung, was das
miteinander zu tun hat). Der Verkäufer ist ein Chaot: zuerst
fliegt ein Pfannkuchen bei dem kühnen Versuch, ihn durch
Hochwerfen zu wenden, in hohem Bogen ins Gras, und dann vergisst er,
die Heizplatte wieder anzustecken...
In /home beginnt währenddessen die Wau Holland Memorial
Session, und wir kommen etwas verspätet dort an. Er war schon
eine faszinierende Persönlichkeit; zuletzt habe ich ihn zu
Ostern in Hamburg gesehen, dort hat er über seine Erfahrungen
mit der Post bzw. später der Telekom erzählt. Der
Alterspräsident des CCC saß da wie ein Märchenonkel,
umgeben von den jungen Hackern, die interessiert zuhörten... wer
hätte gedacht, dass er nur wenige Monate später stirbt.
Hier hoffe ich, etwas mehr über diesen Menschen mit visionären
Ansichten zu erfahren – aber das Zelt ist brechend voll, keine
Chance, etwas zu verstehen. Schade. Wir schauen stattdessen etwas
herum, laufen zwischen den Zelten (manche haben sie mit Tarnnetzen
verziert, einmal sehen wir auch ein Telekom-Zelt; Hacker-Ironie!)
entlang und beobachten dann die Feuerspucker, die auf der Wiese vor
dem Zelt aktiv sind.
Jetzt wird es langsam Zeit, dass wir uns um einen Anschluss an das Netzwerk kümmern. Wir hatten uns gedacht, dass es reichen müsste, ein kurzes Kabel mitzunehmen, weil man sich sicherlich bei jemand in der Nachbarschaft einstöpseln kann – aber im Gegensatz zum Chaos Communication Camp vor zwei Jahren ist hier der Abstand zwischen den Zelten viel größer. Aber wir wollen uns nicht extra für dieses Event ein teures Kabel kaufen. Zufällig erfahren wir, dass es die Kabel kostenlos gibt: eine Firma hat einige Kilometer gespendet, man kann sich selber ein Stück abschneiden, das vom nächsten Bauwagen (wo der Switch steht) bis zum eigenen Zelt oder Wohnmobil reicht. Jemand leiht uns seine Crimpzange (und schenkt uns die nötigen Stecker), ein anderer hilft uns bei der richtigen Anordnung der Adern... und schon sind wir online.
Und darum verbringen wir den Tag vor unseren Laptops, weil die
Vorträge und ein Quiz („Where lives Big Endian? Alphaland,
Poland, MIPSland, Cleveland or SPARCland?“) alle ziemlich flau
wirken. Lediglich zum Duschen und Einkaufen verlassen wir die
Wohnkabine. Die Leute in den Zelten um uns herum machen es
anscheinend auch nicht anders: im Lieferwagen nebenan sieht man sie
stundenlang vor den Rechnern sitzen; im Zelt auf der anderen Seite
kommen sie nur nach draußen, um Bier zu holen und zu grillen,
schließlich rollt einer nach draußen und kotzt ausgiebig.
Man kann es auch übertreiben.
Am Abend wird ein Film gezeigt: „Freedom
Downtime“ heißt er, und wurde vom amerikanischen Hacker
Emanuel Goldstein gedreht. Als wir in den Saal kommen, läuft
dort noch eine Diskussion über Drogen, und dann beginnt der
Film. Er handelt von dem amerikanischen Hacker Kevin Mitnick, der in
einem Gerichtsverfahren mit fadenscheinigen Argumenten zu einem
Staatsfeind hochstilisiert und zu mehrjähriger Haft verurteilt
wurde. Um Kevins Geschichte in die Öffentlichkeit zu bringen und
die Inkompetenz der amerikanischen Politik und Justiz in Sachen
Computer und Computersicherheit aufzuzeigen, haben seine Freunde
diesen Film gedreht. Interessant ist er, aber leider auch etwas
unstrukturiert und zieht sich ziemlich in die Länge. Vielleicht
hätten wir uns lieber zu den holländischen Studenten setzen
sollen, die am Holzturm ein Lagerfeuer machen.
Gegen Mittag steht ein Pflichttermin an: Hacker-Jeopardy, veranstaltet von den Leuten des Münchner CCC (http://www.muc.ccc.de). Genauso wie beim Jeopardy im Fernsehen werden Antworten gegeben und die dazugehörigen Fragen gesucht, allerdings mit Hacker-relevanten Themengebieten, wie „/etc/services“ (TCP/IP Dienste und ihre Ports), „Line Noise“ (welcher charakteristische Datenstrom wird von welchem Protokoll (z.B. ppp) verursacht) und „256“ (alles zur Zahl 256, in verschiedenen Zahlensystemen). Die Punktetafel wurde von Sec in Perl programmiert (http://www.42.org), und vom Notebook mit einem Beamer auf die Leinwand geworfen; die Buzzer sind Notausschalter (wie bei großen Elektrogeräten verwendet), die über Manuels ziemlich wild aussehende Schaltung (auf einem Experimentierboard zusammengesteckt) an einen Mikroprozessor angeschlossen sind (der sie per Interrupt abfragt und ihre Stellung über ein serielles Kabel an das Notebook meldet). Cool! Jeder Kandidat bekommt eine Dose Jolt (das Hackergetränk schlechthin, Cola mit viel Koffein), Ray betätigt sich als Zufallsgenerator, Sec ist Moderator, und Manuel bedient den Laptop – ein Riesenspaß, für mich eigentlich das Highlight des HAL.
Danach erklärt mir Manuel seine Mikroprozessorschaltung, und
ein kurzer Regenschauer treibt uns in unsere Zelte/Wohnmobile zurück.
Nachmittags wäre ein Vortrag von Sec über seine Erfahrungen
mit Wardriving an der Reihe, aber es setzt ein derart massiver
Wolkenbruch ein, dass man sich beim besten Willen nicht ins Freie
begeben möchte; es schüttet weitere zwei Stunden, rund um
uns herum reißen alle hektisch ihre Zelte ab und verschwinden,
gegen Abend sind ungefähr drei Viertel der Leute abgereist. Auch
die Veranstalter beginnen mit dem Abbau; als ich mir noch ein
HAL-T-Shirt kaufen will, ist /home schon fast abgebaut, und auch das
Netzwerk geht nicht mehr. Aber wenigstens regnet es abends nicht
mehr, und wir nutzen die Chance zu einem Ausflug nach Enschede. In
der Stadt ist nicht viel los (kein Wunder, Sonntag abends), wir
kommen durch eine kleine Fußgängerzone, und sehen dann
etwas entfernt eine Ruine eines Hochhauses. Ob das die Gegend ist, wo
vor gut einem Jahr eine Feuerwerksfabrik explodiert ist und ein
ganzes Stadtviertel verwüstet hat? Wer weiß, wir finden
keine Hinweise darauf, es könnte auch irgendwo weiter in den
Außenbezirken gewesen sein. Wir radeln noch ein bisschen herum,
helfen einem kleinen Jungen, dessen Fahrradkette rausgesprungen ist,
danach fahren wir wieder zurück.
Weil wir in den nächsten Tagen nicht unbedingt auf Campingplätzen sein werden, füllen wir mit Kanistern unseren Wassertank auf und lassen das Abwasser ab. Ein paar Holländer sprechen uns an, ob wir nicht Lust auf eine Netzwerksession hätten – warum nicht, aber... wir lassen es dann doch bleiben, und radeln stattdessen über das Gelände. In der Ecke um den Glockenturm, wo sich die Deutschen niedergelassen haben, ist noch etwas los, die Holländer sind alle weg. Ich kaufe mir ein T-Shirt bei Interhemd Nerdwear (http://www.interhemd.de), wir besichtigen den Monolithen von den Berliner C-Base-Leuten (http://www.c-base.org) (ein schwarzer , ca. 3 m hoher Quader, der aufrecht in der Wiese steht und elektromagnetische Wellen in Schall umsetzt; wenn man sich ihm nähert oder sonstwie das Feld stört, verändert sich die Frequenz des Piepstons, den er aussendet), und das Wau Holland-Memorial (Alterspräsident und einer der Gründungsmitglieder des CCC, ist kurz zuvor verstorben, http://www.wauland.de). Außen herum stehen die Zelte vom CCC Hamburg, Berlin und Ruhrgebiet.
Nachdem schon gestern der größte Teil des HAL abgebaut
wurde, gibt es nichts mehr, was uns noch hier hält. Das, muss
man sagen, war beim Chaos Communication Camp 1999 bei Berlin besser:
nach dem letzten Tag lief der Abbau langsam und gemütlich, bis
zum darauf folgenden Abend funktionierte das Netz noch, es herrschte
keine solche „Rausschmeiß-Atmosphäre“. Überhaupt
ist das Camp in so mancher Hinsicht ungeschlagen, zum Beispiel die
Lichtinstallation aus Leuchtstoffröhren und das Art&Beauty-Tent
von C-Base (http://www.c-base.org), die Essensversorgung (die
Wagenburg, wo „Wagenburger“ verkauft wurden, der Chai-Shop
mit chinesischen und thailändischen Spezialitäten) und die
Atmosphäre im Hackcenter werde ich wohl nie vergessen.
Über Hengelo und Almelo fahren wir nach Nordwesten, durch
eine sehr ländliche und dünn besiedelte Gegend. Hier gibt
es vermutlich mehr Kühe als Menschen, und bei dem dunstigen und
bewölkten Wetter gibt es auch keinen Grund, sich hier
aufzuhalten. Irgendwo müssen wir wir vor einem Bahnübergang
warten; hier haben also auch entlegenere Gegenden einen angemessenen
Bahnanschluss. Der Triebwagen ist modern und schnell unterwegs, die
Schranken nicht unnötig lange geschlossen – warum geht das in
Deutschland nicht?
Zwolle ist der erste Ort, den wir heute besichtigen. Wir sind
begeistert über die Wasserläufe, die die Stadt von fast
allen Seiten umgeben, die Hausboote und die Zugbrücken – nicht
wissend, dass das für Holland eher die Regel als die Ausnahme
ist. Und im Zentrum entdecken wir noch etwas, was für uns
Deutsche etwas sonderbar ist: ein Volksfest. Es befindet sich nicht
etwa auf einem speziellen Festplatz, sondern auf den Straßen
der Innenstadt. Schießbude neben Autoscooter, in einer
Nebengasse ist die Achterbahn aufgebaut (haarscharf an den Häusern
vorbei), und vor der Kirche steht die Geisterbahn.
Das nächste Ziel ist die Nachbarstadt Kampen. Die Wegweiser
leiten uns nach Süden auf die Autobahn (ein Umweg, aber die
kleine direkte Straße finden wir nicht); dort tanken wir, und
sind kurz danach in Kampen. Diese hübsche Stadt liegt an der
Ijssel (anscheinend kein „richtiger“ Fluss, sondern ein
Seitenarm des Rheins), und schmiegt sich mit ihrem elliptischen
Grundriss an das Flussufer. Umgeben ist die Stadt von einer
durchgehenden Stadtmauer, deren Tore sich angeblich wasserdicht
verschließen lassen. Wir parken an einem Kanal, der sich längs
durch die ganze Stadt zieht (und mit merkwürdigen,
unzusammenhängenden Begriffen am Ufer beschriftet ist – soll das
ein Kunstprojekt sein?), und radeln zuerst zum Ijssel-Ufer und zur
dortigen Hebebrücke. Der Fluss ist hier, kurz vor der Mündung
ins Ijsselmeer, sehr breit und wird von großen Schiffen
befahren, darum muss die Brücke jedesmal, wenn ein größerer
Kahn kommt, angehoben werden. Das geschieht überraschend schnell
und lautlos. Danach geht es zurück in die Stadt (die leider
wegen des bedeckten, grauen Himmels nicht so ganz zur Geltung kommt),
wir fahren durch die Fußgängerzone (Backsteinhäuser,
und über der Straße gespannte bunte Bänder), vorbei
am Glockenturm (das Glockenspiel spielt das Papageno-Lied aus Mozarts
„Zauberflöte“), und besichtigen anschließend
noch die „Kirche unserer lieben Frau“, ein von außen
sehr romanisch-wuchtig aussehendes dreischiffiges Gotteshaus, das
aber innen gotisch und recht einfach gestaltet ist. Nachdem wir die
Kirche betreten haben, schauen wir uns etwas schüchtern um; ein
Mann, der an einem Tisch sitzt, bemerkt uns und gibt uns
unaufgefordert ein Faltblatt mit einer Beschreibung der Kirche – am
Regal steht, dass diese Zettel einen geringen Unkostenbeitrag kosten,
aber wir könnten es nachher wieder zurücklegen, meint der
Mann. Schön, diese unaufdringliche Hilfsbereitschaft.
Etwas nördlich von Kampen liegen die Orte Blokzijl und Giethoorn, die laut Reiseführer beide interessant sind; die müssen wir auch anschauen. Wir fahren über die Ijssel und sind kurze Zeit später in Blokzijl. Das Auto wird außerhalb neben einer Wiese geparkt (dann können wir direkt durch die Heckscheibe Schafe zählen!), und wir ziehen los. Wir kommen zu einem Kanal und zu einer Schleuse, hinter der der Hafen liegt. Für so ein kleines Städtchen ein beachtlicher Hafen! Angeblich war diese Stadt früher ein Piratennest; das ist heute vorbei, nachdem die Nordseebucht Zuidersee durch mehrere Dämme vom Meer abgetrennt ist und jetzt Ijsselmeer heißt, und mehrere Polder vor den Ufern des Ijsselmeers Blokzijl einige Kilometer ins Landesinnere gebracht haben. Aber es ist ein hübscher Ort; mehrere Kanäle durchziehen ihn, so dass viele Häuser ihre Segelschiffe direkt vor der Haustür haben. Dass sie damit unter den Brücken nicht durchkommen, stört nicht, denn erstens sind die zentralen Brücken alles Zugbrücken, und zweitens haben oft beide Seiten einer Brücke Anschluss an das Kanalnetz. Auf der anderen Seite von Blokzijl entdecken wir einen zweiten Hafen, der auch nicht wirklich klein ist. Ein Seglerparadies! Zurück am Auto machen wir uns Abendessen und schauen noch einen Film auf dem Laptop an („Lara Croft“ – so ein Schrottfilm!). Und danach gibt es noch einen Nacht-Trail in den Ort.
Morgens fällt uns auf, dass im Laufe der Zeit zahlreiche
Autos kommen, von denen die meisten Fahrräder dabei haben. Sie
parken, laden die Räder ab und radeln los – anscheinend ist
Blokzijl auch für Holländer ein Ausflugsziel.
Aber wir fahren weiter nach Giethoorn, das auch „Venedig des
Nordens“ genannt wird. Der Dunst verzieht sich, und die Sonne
kommt durch: so sieht die Welt doch gleich viel freundlicher aus als
mit dem gestrigen Hochnebel. Die Straße, auf der wir von Norden
kommen, führt neben einem breiten Kanal entlang, auf dem ein
ordentlicher Schiffsverkehr herrscht. Was hier so toll sein soll, ist
auf den ersten Blick nicht zu erkennen; egal, wir parken, und radeln
los, an einem Seitenkanal entlang. Dort gibt es einen Bootsverleih,
und weiter hinten, bei der Kirche, fängt Giethoorn richtig an:
wir treffen auf einen weiteren Kanal, an dem die Häuser liegen;
zu jedem Haus führt eine Brücke über den Kanal, und
auf dem Kanal sind jede Menge Touristen in Leihbooten (lange, schmale
Boote mit Elektro-Außenbordern) unterwegs. Die Häuser,
meist Reet-gedeckt, sind sehr hübsch hergerichtet, mit netten
Gärten – alles ist sehr idyllisch und sehenswert, es erinnert
mich an den Spreewald. Wir radeln am Kanal entlang nach Süden
bis zum Ortsende, dann wieder zurück; etwas östlich ist ein
See, und ein Damm führt zur einer Insel mit Restaurant.
Hier
müssen wir die Fahrräder stehen lassen (überall sonst
war Rad fahren selbstverständlich erlaubt, auch über die
engen Brücken), eine Scheune steht als Abstellplatz bereit. Das
ist schon nicht schlecht, neben dem Ort ein See, der auch als
Seglerparadies taugt – auch die Kanalanbindung ist nicht schlecht,
auf einer Karte zähle ich sechs Verbindungen zwischen dem Kanal
durch Giethoorn und dem See. Und das ist ja noch nicht alles, in der
näheren Umgebung gibt es drei weitere Seen, alle miteinander
über ein Kanalnetz und sicher auch mit dem Ijsselmeer verbunden,
und überall Zugbrücken, damit auch Segelboote durchkommen.
Neben dem Damm ist ein Campingplatz, bei dem die Leute neben ihren
Wohnwägen ihre Boote haben – Camping auf holländisch! Auch
nördlich des Sees ist eine Kleingartensiedlung, wo Kinder mit
Motorbooten herumfahren so wie bei uns mit Fahrrädern, und
einige alte Windräder stehen verloren im endlosen Schilfgürtel.
Dann geht es zurück Richtung Auto; auf der anderen Seite des
großen Kanals sehen wir zwei Häfen für Segelschiffe,
und einige Radlergruppen kommen uns entgegen. Radfahren und segeln –
das ist wohl die holländische Lebensart, die könnte auch
uns gefallen.
Als nächstes fahren wir nach Urk, einem Fischerdorf am
Ijsselmeer. Es liegt auf dem Noordoostpolder, und ist daher wohl noch
nicht so alt (der Polder muss irgendwann im 19. Jahrhundert
entstanden sein). Wir machen einen Rundgang; faszinierend ist, wenn
direkt hinter den Häuserfassaden die Masten von Segelschiffen
vorbeiziehen. Über dem Ijsselmeer liegt Dunst, daher kann man
nicht auf die andere Seite schauen (die nur etwa 20 km entfernt
sein dürfte), und der schnurgerade Deich nach Norden verliert
sich ebenfalls im Nichts – sieht cool aus! Eigentlich ein ganz netter
Ort, aber nicht unbedingt sehenswert, nichts besonderes (der
Reiseführer hat hier etwas zu viel versprochen). Wir sparen uns,
den Leuchtturm zu besichtigen, kaufen uns noch ein Eis, und fahren
weiter. Über die Autobahn geht es nach Flevoland, ein riesiger
Polder im Ijsselmeer. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese
riesige Fläche früher einmal Meeresgrund war! Entlang der
Autobahn ziehen sich endlos riesige Windkraftanlagen, und dann
erreichen wir Lelystad. Besonders sehenswert ist diese Stadt
angeblich nicht, und der Blick von der Autobahn aus bestätigt
das: moderne Häuser, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen.
Stattdessen fahren wir auf den Damm, der Lelystad mit Enkhuizen auf
der anderen Seite des Ijsselmeers verbindet. Nicht schlecht, ein etwa
30 km langer Damm, dessen Benutzung kostenlos ist! Irgendwo in
der Mitte ist ein Parkplatz, wo wir kurz anhalten. Über den Damm
geht neben der Straße ein Radweg, der auch intensiv genutzt
wird: alle paar Minuten kommt ein Radler vorbei.
Dann sind wir in Enkhuizen. Markant ist ein Tor mit dicken
Rundtürmen (und Glockenspiel, wie es sich für eine
ordentliche holländische Stadt gehört), hinter dem die
Innenstadt beginnt. Ein Kanal führt vom Ijsselmeer hinter dem
Tor vorbei in den Stadthafen; über eine Zugbrücke
überqueren wir den Kanal (auf Fahrrädern), und weiter durch
den nördlichen Teil der Stadt bis zum Ijsselmeer-Museum. Das
Museum zeigt, wie die Leute hier früher gelebt haben; ein
Museumsdorf mit Fischernetzen usw. ist von außen erkennbar. Wir
nehmen uns aber nicht die Zeit, es zu besichtigen, und fahren weiter
auf dem Damm, der rund um die Stadt geht. Von dort aus geht es zurück
in die Stadt, an der Kirche vorbei, und als wir einen Aldi sehen,
wird gleich eingekauft (muss man ausnutzen, wenn man auf einen
Supermarkt stößt). Ein kleiner Snack wäre jetzt nicht
schlecht... vielleicht gibt es irgendwo Heringe. Das ist zwar
nirgendwo direkt angeschrieben, aber wir finden am Stadthafen ein
Fischgeschäft mit einer Tafel „Hollandse Nieuwe“ –
dank meines Reiseführers weiß ich, dass damit Heringe
gemeint sind, und bestelle mir „een haring“. Schmeckt
lecker!
Bevor wir in die nächste Stadt fahren, radeln wir noch einmal
schnell zum Anfang des Ijsselmeer-Damms, weil es dort Windkraftwerke
gibt, die wir uns aus der Nähe anschauen wollen. Direkt neben
der Schleuse befinden sich ein halbes Dutzend, und drehen sich
praktisch lautlos, dazwischen hat es sich ein Ehepaar zum Picknick
gemütlich gemacht – Windräder sind eine elegante Art der
Stromerzeugung. Aber sie scheinen groß zu sein: der Damm, auf
dem sie nebeneinander aufgereiht stehen, ist fast einen Kilometer
lang! Auf dem Rückweg ist die Schleuse durch den Ijsselmeer-Damm
geöffnet, und auch die Klappbrücke; die Autos stauen sich
schon etliche hundert Meter auf dem Damm zurück, da macht es
extra Spaß, auf dem Rad bis zur Brücke an ihnen
vorbeizuziehen.
Hoorn erreichen wir am späten Nachmittag. Das Auto wird vor dem Bahnhof geparkt, und los geht's in die Fußgängerzone, in der Einiges los ist – vor allem weiter hinten, wo ein Volksfest tobt; wie üblich ziehen sich die Fahrgeschäfte durch mehrere Straßen hin, das Riesenrad steht ebenso selbstverständlich direkt vor einem Kirchturm wie die Achterbahn die Hälfte einer Durchgangsstraße belegt. Es ist ein hübscher Ort; durch die Fußgängerzone mit Backsteinhäusern links und rechts und den in Holland anscheinend unvermeidlichen Verzierung aus Bändern über der Straße gelangen wir zum Hafen, oder genauer zu einem der Häfen. Das Hafenbecken verjüngt sich hier zu einem Kanal, der unter einer Zugbrücke hindurch in die Stadt geht (und nur an den wenigsten Stellen überhaupt ein Geländer oder andere Absperrung hat), und an der Seite des Hafens ist ein charakteristischer Backsteinturm. Dahinter ist ein Steg, an dem die größeren Schiffe festmachen; für die kleineren gibt es etwas weiter südlich einen riesigen Yachthafen. Dort setzen wir uns auf eine Bank, genießen den Sonnenuntergang und beobachten die Jetski-Jünger, die unablässig ihre Runden drehen.
Über den alten Hafen geht es zurück; hier fällt uns
eine Baustelle auf, bei der ein Stück eines Kanals mit
Spundwänden abgetrennt und leergepumpt wurde, anscheinend um die
Häuser sanieren zu können. Der Radweg wurde hier komplett
auf einen provisorischen Weg aus Holzbohlen umgeleitet – in
Deutschland hätte es gerade mal für ein Schild „Radfahrer
bitte absteigen“ gereicht. Bald danach sind wir wieder beim
Auto, und machen uns etwas zu essen. Weil immer wieder Autos vorbei
fahren, wollen wir uns für die Nacht einen ruhigeren Ort suchen,
und machen uns nach Süden auf. Auf der Suche nach dem direkten
Weg verfahren wir uns ein paar Mal, und landen doch wieder auf der
Schnellstraße. Egal; bei Edam fahren herunter, stellen uns
irgendwo an den Stadtrand und übernachten.
Wenn wir schon in Edam sind, dann müssen wir auch den Edamer sehen. Rauf auf die Räder, und ab dorthin, wo wir meinen, dass die Stadtmitte ist. Wir kommen an einer Windmühle am Stadtrand vorbei, biegen dort ab (weil wir ja ins Zentrum wollten) und sind kurz danach an einem Platz mit Kirche, wo ein tonnenförmiges Gewölbe über den Kanal gemauert ist. Aha, schonmal nicht schlecht. Aber eine Straße weiter ist richtig was los: hier ist der Käsemarkt, und ein Stand reiht sich an den anderen.
In der Mitte drängt sich eine Menschenmenge, denn hier wird
der Käsehandel, wie er früher üblich war,
nachgespielt. Alle Beteiligten tragen Tracht, rund um die große
Waage einigen sich Bauern und Händler über den Preis, je
zwei Träger tragen die Käselaiber auf Holzgestellen, die
sie an Schulterriemen tragen, im Laufschritt über den Platz, und
auf der Tafel wird der aktuelle Käsepreis notiert; außen
herum stehen Frauen, die wie „Frau Antje“ aus der Werbung
aussehen – soviel zur Handlung. Und damit die Touristen das auch
verstehen, gibt es einen Moderator, der alles erklärt – und zwar
auf englisch, italienisch und deutsch. Wenn schon so viel Aufwand
getrieben wird, um den Touristen das zu bieten, was sie sehen wollen,
dann darf natürlich die Musik nicht fehlen, die von einer
Kapelle geliefert wird. Mir wurde aber nicht ganz klar, was der
Zillertaler Hochzeitsmarsch und „oans, zwoa, gsuffa“ mit
holländischer Volksmusik zu tun haben... Nichts wie weg von dem
Trubel. Wir besichtigen die Kirche (nachdem ich mein Fahrrad wieder
fit gemacht habe – jemand hat mir die Luft aus dem Reifen gelassen),
und fahren dann am Kanal zurück ins Zentrum. Erst jetzt fällt
uns auf: der Käse, der am Markt verkauft wird, wird hier mit
einem Ruderboot angeliefert und dann von den Trägern abgeholt...
bei diesem Käsemarkt wurde wirklich auf jedes Detail geachtet!
Für die Stadt Volendam ganz in der Nähe nehmen wir uns
keine Zeit, sondern fahren weiter bis nach Marken; eine Insel, die
über einen Damm mit dem Festland verbunden ist. Weil die Insel
autofrei ist, muss man am Ende des Damms kostenpflichtig parken und
kann dann zu Fuß oder mit dem Fahrrad weiter. Marken ist
eigentlich nichts Besonderes; nur eine Menge hübscher, kleiner
Häuser, die alle sehr ähnlich aussehen und einige
schneeweiße Zugbrücken dazwischen. Dass die Häuser so
klein sind, liegt daran, dass die Insel erst seit 1959 einen Deich
hat – zuvor mussten sich die Häuser zum Schutz vor Überflutung
auf die flachen Hügel quetschen.
Dann sind wir auch schon fast in Amsterdam, wo wir uns einen schönen Campingplatz suchen wollen. Im Norden gibt es einen, wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Aber der ist schon voll, außerdem ist er nicht billig und man muss mindestens drei Nächte bleiben. Wir werden weitergeschickt zum Campingplatz im Südosten, der ein ganzes Stück weiter vom Zentrum entfernt ist; aber der ist auch schon voll. Nur am dritten Campingplatz im Südwesten, in der Nähe des Flughafens, gibt es noch Plätze. Wahrscheinlich, weil er immerhin 15 km vom Zentrum weg ist und kein Bahnhof in der Nähe ist. Nachdem wir den Pickup installiert haben, brechen wir zu einer Radtour nach Amsterdam auf.
Die Radwege sind sehr gut ausgeschildert, es gibt sogar mehrere
verschiedene Routen. Traumhaft. Wir fahren immer geradeaus, um ins
Zentrum zu kommen; bei diesen vielen Grachten (die alle gleich
aussehen) fällt die Orientierung nicht gerade leicht.
Schließlich landen wir bei einer großen Säule – es
ist das Nationalmonument; belagert von Scharen von Jugendlichen, die
es sich dort bequem gemacht haben. Und jetzt? Die Radtour hat uns
hungrig und durstig gemacht, wir holen uns bei KFC etwas zu essen.
Bereits hier fällt uns auf, dass niemand holländisch
spricht; in der ganzen Innenstadt ist anscheinend Englisch die
Alltagssprache. Diese Menschenmassen, die überall unterwegs
sind, die vielen Jugendlichen – das scheinen alles Touristen zu sein,
das Stadtzentrum ist multikulturell und fest in ausländischer
Hand.
Anschließend fahren wir zum Hauptbahnhof, der sehr zentral liegt, praktisch am Mittelpunkt der konzentrischen Grachten-Ringe. Hier ist das Zentrum des öffentlichen Verkehrs, Züge gehen von hier aus in alle erdenklichen Richtungen, sowohl in die verschiedenen europäischen Metropolen als auch holländische Provinznester. Selbst einen Güterzug sehen wir in der Bahnhofshalle, der Funken sprühend bremst, und auf der anderen Seite des Bahnhofs, der direkt am Wasser ist, liegt ein riesiges Passagierschiff. Wo derart viele Verkehrsverbindungen zusammenkommen, dürfen natürlich auch Fahrräder nicht fehlen; und deshalb gibt es neben dem Bahnhof ein Fahrradparkhaus. Und zwar von den Ausmaßen durchaus vergleichbar mit Parkhäusern für Autos! Zig Meter lang und über drei Stockwerke reiht sich ein Hollandrad an das andere, freie Plätze gibt es praktisch nicht. Wie die hier wohl ihr Rad wiederfinden?
Bevor wir wieder zurück zum Campingplatz fahren, radeln wir noch kreuz und quer durch die Innenstadt, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Nach Einbruch der Dunkelheit werden wir von einem Schauer überrascht, der aber so schnell wieder aufhört, wie er gekommen ist (und warm ist es immer noch, weil es den ganzen Tag sonnig war). Aber es sind immer noch sehr viele Leute in der Stadt unterwegs, viele mit dem Fahrrad, und keiner fährt mit Licht. Überhaupt: viele haben einen ziemlich geisteskranken Fahrstil. Fahren mit hohem Tempo, biegen schwungvoll in Vorfahrtsstraßen ein – natürlich ohne zu schauen, fahren freihändig und in Schlangenlinien zwischen den Autos und Fußgängern... dass nichts passiert, liegt daran, dass die Autofahrer extrem vorsichtig fahren; sie wissen, dass sie gegen diese Übermacht von Verrückten nichts ausrichten können.
Als wir zum Rückweg aufbrechen, sind wir außerhalb unseres Stadtplans. Wir finden einen Weg am Fluss entlang nach Süden, beim Autobahnring biegen wir nach Westen ab, irren etwas herum und landen schließlich auf dem richtigen Weg. Es ist schon etwas trickreich: von hier aus führen fast alle Wege nach Amsterdam, aber in Amsterdam muss man sich schon genau auskennen, um den Weg zurück nach Amstelveen/Bovenkerk zu finden, schließlich sind das alles andere als Großstädte. Naja, so schlecht war unsere Route auch wieder nicht, eben ein paar Kilometer Umweg.
Wie gestern geht es mit dem Brompton ins Zentrum, dabei liefern
wir uns unterwegs ein Rennen mit Rennradfahrern (sie schaffen es
nicht, uns abzuhängen). Unterwegs kauft Michael eine neue
Videokassette, wieder wissen wir nicht so genau, wo wir uns befinden,
und wieder landen wir am Nationalmonument – anscheinend kann man da
nichts falsch machen.
Und dann? Eigentlich hat Amsterdam nur wenige berühmte
Gebäude, die Stadt an sich scheint etwas Besonderes zu sein. Der
Reiseführer empfiehlt als erstes einen Blick vom Turm der
Westerkerk (85 m hoch; die charakteristische Krone an der Spitze
ist ein Dankesgeschenk vom österreichischen Kaiserreich), und
das machen wir auch. Vorbei an den menschlichen Statuen, die
gegenüber vom Nationalmonument herumstehen und den Touristen,
die die Scharen von Tauben füttern, fahren wir zur größten
Kirche von Amsterdam (sogar die größte protestantische
Kirche der Niederlande). Die 1631 fertiggestellte Kirche ist sehr
hell und hoch (28 m), und auffällig ist wieder die
Anordnung der Stühle (es gibt keine durchgehenden Bänke):
sie sind auf die große hölzerne Kanzel, die seitlich an
einer Säule befestigt ist, ausgerichtet, und nicht auf den
Altar. Über allem hängen die goldenen Kerzenleuchter – auch
etwas, was offenbar typisch für holländische Kirchen ist.
Bei der Turmführung sind keine Plätze mehr frei, deshalb
schauen wir uns zuerst die Umgebung an: direkt um die Ecke ist das
Anne-Frank-Haus. Die Vorderseite sieht sehr modern aus und ist
vermutlich ein Museum, aber die hintere Wohnung, wo sich Anne Frank
mit ihrer Familie vor den Nazis versteckt hat, ist originalgetreu
erhalten (auch mit der Tür, die als Bücherschrank getarnt
war). Aber die Besichtigung sparen wir uns, weil eine Schlange mit
hunderten von Leuten vor dem Haus ansteht. Noch ein kurzer Abstecher
zu McDonald's, und schon ist es Zeit für die nächste
Turmführung der Westerkerk. Die Führung beginnt in der
Stube, wo die Glocken geläutet werden (die Seile gehen durch den
Raum und wir werden ermahnt, nicht daran zu ziehen), und hier steht
auch das Bett des Glöckners (die Glöckner haben früher
in zwei Schichten hier gearbeitet; die Kirche diente auch als
Feuerwache für den umliegenden Bezirk, und jeder hatte zu Hause
einen Eimer, mit dem er löschen konnte) und das Glockenspiel. In
Betrieb ist ein automatisches Glockenspiel von 1985, aber daneben
steht das alte Glockenspiel von 1658, dessen Klang auch Anne Frank in
ihrem Tagebuch beschrieben hat. Weiter oben steigen wir durch das
Holzgerüst, das die Glocken (u.a. die 7,5 t schwere
Stundenglocke) trägt und ihre Schwingungen vom Turm entkoppelt
(der würde sie nämlich nicht aushalten), und sind dann
schon bald oben auf der Aussichtsplattform. Man hat hier wirklich
eine gute Übersicht, aber auffällig ist vor allem die
Unauffälligkeit der Stadt. Keine Hochhäuser, kaum moderne
Gebäude, sondern nur Häuser im alten Stil, die sich entlang
der Grachten reihen. Irgendwie sieht die Stadt auf allen Seiten
gleich aus.
Wieder unten angekommen, werfen wir noch einen Blick auf das Homomonument, einer dreieckigen Plattform, die an die Verfolgung von Homosexuellen in zweiten Weltkrieg erinnert. Ganz in der Nähe ist ein Gay-Kiosk mit einem Gay-Stadtplan... so etwas ist auch nur in Amsterdam möglich. Dazu passt auch eine andere Geschichte: nach der Turmführung habe ich mich noch ein bisschen mit der Führerin unterhalten; sie meinte, sie kenne München, sie sei im Juli dort am Christopher-Street-Day gewesen, und habe topless getanzt...
Untrennbar mit Amsterdam verbunden sind auch die Coffee Shops. Als
wir bei einem vorbei kommen, gehen wir hinein und trinken dort einen
Cappuccino. Dabei können wir gut beobachten, dass der
Hauptumsatz hier nicht mit Kaffee gemacht wird, sondern mit diversen
bewusstseinserweiternden Rauchwaren, die man dort kaufen kann. Eine
eigene „Speisekarte“ gibt es dafür, mit diversen
Sorten von Gras und Joints. Dann fahren wir weiter zum
„Bloemenmarkt“; das sind eine Reihe von Ständen, wo so
ziemlich alles verkauft wird, was man zum Wachsen bringen kann –
Blumenzwiebeln in einer riesigen Auswahl, Cannabis-Homegrow-Sets,
Absinth – und auch diverse Souvenirs wie Holzschuhe („Klompen“)
oder ein Feuerzeug mit der Aufschrift „enjoint Amsterdam“.
Die Räder lassen wir gleich abgesperrt, und ziehen zu Fuß weiter; unter anderem kommen wir zu einer Einkaufspassage mit einem gläsernen Lift. Oben ist ein Café, von dem man einen schönen Blick über die Dächer von Amsterdam hat. Nach einer guten Stunde sind wir wieder zurück, um die Räder zu holen. Dabei machen wir eine erschreckende Entdeckung: wir hatten die Räder an einem Geländer abgesperrt, vor einem anderen Fahrrad (weil es keinen anderen Platz gab), und jetzt ist das andere Fahrrad weg. Der Besitzer hat es herausheben können – zugegebenermaßen war es nicht nett, ihn derart zuzuparken –, aber vorher hat er offensichtlich versucht, unser Schloss zu zerschneiden. Die Hälfte der Drahtlitzen ist durchtrennt. Raue Sitten herrschen hier.
Was sollten wir uns noch anschauen? Für das Rijksmuseum war
wiedermal keine Zeit, und auch das Schifffahrtsmuseum dürfte
bereits geschlossen haben. Aber wir wollen trotzdem einmal hinfahren,
um die Segelschiffe anzuschauen. Unterwegs kaufen wir bei einem
Supermarkt ein, und sehen dann östlich vom Hauptbahnhof ein
großes Haus, das wie der Bug eines Schiffs aussieht und sich
direkt über der Einfahrt des Tunnels einer Durchgangsstraße
befindet. Eine lange Rampe führt nach oben, und metallisch
schimmernde Fahnen flattern im Wind; wir laufen nach oben, setzen uns
auf die Stufen und genießen die Abendsonne. Was das für
ein Gebäude ist, haben wir nicht herausgefunden; nirgendwo stand
ein Schild, aber vermutlich ist es ein modernes Museum.
Abends füllt sich der ansonsten eher langweilige östliche
Teil der Innenstadt mit Leben: es ist der Rotlichtbezirk. Nachdem wir
in einem Restaurant etwas gegessen haben, spazieren wir durch diese
Straßen. In jedem zweiten Haus stehen spärlich bekleidete
Damen in den schwarzlichtbeleuchteten Schaufenstern und warten auf
Kundschaft. Und damit dürften sie wenig Probleme haben, weil
abends hier wirklich Menschenmassen unterwegs sind. Aber unter ihnen
auch allerhand merkwürdige Gestalten: einmal bettelt uns jemand
an, er brauche unbedingt Geld für die Heimfahrt, nur wenige Mark
würden ihm fehlen; wir geben ihm etwas, werden aber dann das
Gefühl nicht los, dass er systematisch Touristen abzockt. Ein
andermal sehen wir zwei Gestalten, die ein Auto auffällig
intensiv inspizieren, das kommt uns auch etwas merkwürdig vor.
Und schließlich taucht jemand auf, der uns Kokain verkaufen
will: „5 Gramm?... 5 Gramm Koks? Oder zwei Gramm? Hm? ....Oder
vielleicht Viagra? Vielleicht?!?“.
Jetzt haben wir endgültig genug von dieser Stadt, in Amsterdam sind die Leute einfach eine Nummer zu verrückt für uns. Nichts wie zurück zum Campingplatz. Als wir nach einigen Kilometern bei einer Bushaltestelle auf dem Stadtplan nachschauen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, sehen uns zwei Holländer, die uns gleich fragen, wie sie uns helfen können und uns zeigen, wo wir sind (zum Glück auf dem richtigen Weg). Schon eigenartig: die Innenstadt ist fest in der Hand der Verrückten und die Umgangssprache ist Englisch, während nur wenige Kilometer außerhalb die Holländer wohnen, die sehr nett und hilfsbereit sind.
Amsterdam ist auf Dauer zu verrückt, zu undefinierbar,
einfach nicht richtig gemütlich. Weiter geht's; jetzt steht der
Rest der Randstad an. Hier gibt es einige sehenswerte Städte:
Haarlem, Den Haag, Leiden, Delft, Rotterdam, Utrecht, Dordrecht usw.,
aber uns fehlt die Zeit, uns in dieser Gegend genauer umzusehen. Da
lohnt sich vielleicht ein eigener Urlaub, denn das hier ist das
eigentliche Holland (die Provinz heißt auch so, ein Großteil
der Bevölkerung lebt hier), hier werden die berühmten
Tulpen gezüchtet, und hier in der Gegend ist auch das Zentrum
der Käseherstellung.
Wir machen uns erstmal auf den Weg nach Den Haag, vorbei am
Flughafen Schiphol, der auf dem Grund eines leergepumpten Sees
(Haarlemmermeer) angelegt wurde. Nach kurzer Zeit sind wir in Den
Haag; die Autobahn endet, und die Straße führt auf Stelzen
durch die Gegend und auch durch (!) einige Häuser durch, unter
anderem den Bahnhof. Diese Stadt, die zwar nicht die Hauptstadt (das
ist Amsterdam), aber Regierungssitz ist, hat kein richtiges Zentrum
(zumindest ist aus der Karte keines zu erkennen), sondern verstreut
seine zentralen Gebäude und Plätze auf eine größere
Fläche. Wir parken in einer Seitenstraße unser Auto,
ziehen einen Parkschein für 100 Minuten, und radeln los. Zuerst
zu einem Denkmal an der Alexanderstraat, dann weiter nach Süden.
Dort ist ein länglicher Platz mit Bäumen, unter deren
Blätterdach eine ganze Menge Skulpturen stehen: ein Pferd aus
Draht, ein Hahn, irgend etwas aus Kleiderbügeln, ein Fisch auf
einem Fahrrad, ein Hase und noch viel mehr. Richtig schön hier,
ruhig und schattig. Ruhig ist eigentlich die ganze Stadt, fast schon
verschlafen, das komplette Gegenteil zum hektischen Amsterdam. Bei
manchen Kunstwerken stellen wir unsere Bromptons dazu (was eigentlich
gar nicht so schlecht aussieht) und fotografieren; als ich mein
Fahrrad wieder wegnehme, sagt eine Frau, sie habe gedacht, es gehöre
zur Skulptur dazu! Wir gehen weiter und kommen auf einen großen
Platz mit alten Gebäuden, in der Mitte steht wieder eine Statue
von einem Wilhelm, und eine Waschmittelfirma hat einen Stand
aufgebaut und verteilt Waschkörbe (die man kurz danach in der
ganzen Stadt sieht). Laut Stadtplan dürften die Gebäude in
der Umgebung Regierungsgebäude sein. Östlich davon ist der
krasse Gegensatz dazu, eine Ansammlung moderner Hochhäuser mit
Glasfassade rund um den Bahnhof (und auch der Bahnhof selbst hat eine
Hochhausfassade). Der Bahnhofsvorplatz ist eine große Fläche
aus glatten Steinplatten, die nur von einigen Straßenbahnschienen
durchquert wird – sonst nichts, keine Unterteilung, keine
Absperrung... wenn eine Tram kommt, schaltet sich eine Klingel ein.
Im Erdgeschoss des Bahnhofsgebäudes kommen die Züge an, das ganze wirkt dunkel und bunkerhaft, und darüber (im „ersten Stock“), rechtwinklig zu den Schienen, geht die Straße (über die wir in die Stadt gekommen sind) und eine weitere Tramlinie durch das Gebäude. Die Straßenbahnlinie, die den Bahnhofsvorplatz quert, verläuft parallel zum Bahnhof, und auf der anderen Straßenseite ist gegenüber dem Bahnhof ein weiteres Hochhaus. Die Straße und die andere Tramlinie, die im „ersten Stock“ durch den Bahnhof gehen, verschwinden in diesem Hochhaus ebenfalls durch eine große Öffnung, und schräg unterhalb dieser Öffnung hat das Hochhaus eine weitere, durch die man vom Bahnhof direkt in die Fußgängerzone gehen kann. Verrückt! Die ganze Fußgängerzone ist auch sehr modern, aus glatt poliertem Stein, und Gebäude mit Glasfassaden auf beiden Seiten. Irgendwo weiter hinten taucht wieder eine Straßenbahnlinie unter einem Haus durch, und am Ende der Fußgängerzone ist ein Springbrunnen aus in den Bodenplatten eingelassenen Düsen (da kann man dazwischen durchradeln!), die abwechselnd angeschaltet werden. Ja, irgendwie ist diese Stadt cool.
An einem großen Gebäude mit Seerosenteich dahinter (das
&132;Binnenhof&147; heißt und das holländische Parlament
beherbergt) vorbei geht es zur
Grote Kerk; unterwegs essen wir noch ein Eis. Nachdem die
Besichtigung der Kirche Eintritt kostet, lassen wir das (Kirchen
haben wir schon genug gesehen, die alle kostenlos waren), und fahren
zurück zum Auto. Die 100 Minuten Parkzeit sind eh vorbei, unsere
Kurzbesichtigung damit zu Ende. Zeitlich sind wir eigentlich ganz gut
dran, es ist früher Nachmittag, und wir entschließen uns,
in den Vorort Scheveningen ans Meer zu fahren. Dabei kommen wir am
Vredespaleis (Friedenspalast) vorbei, einem schlossartigen Gebäude,
in dem das UN-Kriegsverbrechertribunal seinen Sitz hat und unter
anderem über den ehemaligen jugoslawischen Ministerpräsidenten
Slobodan Milosevic, einer der Hauptakteure im Bosnien-Krieg,
entscheidet. Ein bedeutender Ort, aber zur Besichtigung eher
uninteressant, weil man laut Reiseführer nur eine geführte
Tour machen kann, die einmal am Tag stattfindet. Die nächste
Sehenswürdigkeit, an der wir vorbeikommen, ist Madurodam, eine
Anlage, in der viele Sehenswürdigkeiten Hollands im Maßstab
1:25 nachgebaut sind. Es wird zwar vom Reiseführer empfohlen,
aber auf einem Plakat sehen wir, dass der Eintritt nicht ganz billig
ist, und fahren weiter.
Scheveningen ist das Gegenteil davon, was man als „malerisch“ bezeichnen würde: graue Betonblocks oberhalb der parkplatzgesäumten Strandpromenade. Aber es gibt einen schönen Sandstrand, und der Ort ist von Den Haag bequem per Straßenbahn zu erreichen. Wir parken den Pickup, gehen an den Strand und schwimmen ein bisschen. (Wassertemperatur ist ganz angenehm). Nach einer kurzen Pause machen wir uns wieder auf den Weg, Richtung Rotterdam. Eigentlich wollen wir Landstraße fahren, weil wir es nicht so eilig haben, irgendwie über Hoek van Holland (an der Landspitze nördlich der Maas-Mündung), sehen auch einen Wegweiser nach Monster (so heißt dieser Ort tatsächlich!), aber landen trotzdem wieder auf der Autobahn. Es ist gar nicht so einfach, in den Niederlanden auf kleinen Straßen zu fahren, wenn man sich nicht auskennt, denn die Wegweiser bringen einen immer wieder auf die großen Durchgangsstraßen zurück!
Schließlich kommen wir in Rotterdam an, fahren erst einmal
in die Stadtmitte (weil wir davon einen Stadtplan im Reiseführer
haben), und suchen uns dann einen Parkplatz. Irgendwo an der Maas
hoffen wir, einen zu finden; es stehen zwar überall
Parkautomaten, aber hier ist das Parken ziemlich günstig, über
Nacht kostenlos, und morgen ist Wochenende, da kostet es auch nichts.
Nach einem kleinen Snack ziehen wir los, an der Maas entlang, auf der
Suche nach dem Oudehaven. Wir finden (am Leuvehaven) ein ehemaliges
Hafenbecken mit modernen Wohnblocks auf dem Kai, weiter hinten liegt
ein Feuerschiff (als Restaurant genutzt, mit gesalzenen Preisen). Ein
Stück weiter hören wir Musik, anscheinend die Vorbereitung
zu irgend einer Veranstaltung, denn Rotterdam ist in diesem Jahr
europäische Kulturhauptstadt.
Sieht alles ganz nett aus, aber wir suchen etwas anderes: die
Kubushäuser. Rotterdam wurde nämlich im zweiten Weltkrieg
fast komplett zerstört, nur wenige alte Gebäude blieben
erhalten, der Rest wurde komplett neu gebaut. Heute wird diese
Tatsache als Chance gesehen, und die Stadt konsequent mit moderner
Architektur ausgestattet; ein Beispiel sind die beiden Maas-Brücken,
und eben der Bahnhof Blaak (der auch „Flötenkessel“
genannt wird). Die Eisenbahnbrücke der Bahnlinie nach Dordrecht
wurde 1995 durch einen Tunnel unter der Maas ersetzt, und ein
moderner unterirdischer Bahnhof angelegt. Oberirdisch halten hier
mehrere Straßenbahnlinien, in einer futuristisch aussehenden
Station mit durchsichtigen, wellenförmigen Dächern über
den Bahnsteigen und einem geschwungenen Dach über dem Eingang
zum Untergeschoss. Direkt daneben ist der „Bleistiftturm“
(der Name sagt alles) und die Kubushäuser des Architekten Piet
Blom – die Häuser sind gelbe, auf einer Ecke stehende Würfel,
nebeneinander aufgereiht. Einfach genial!
Nicht weit davon
entfernt ist die rote Willemsbrug, eine Hängebrücke über
die Maas, die auch erst vor wenigen Jahren gebaut wurde (als Ersatz
für eine Vorgängerbrücke, die ebenfalls Willemsbrug
hieß). Daneben ist noch ein Pfeiler der alten Eisenbahnbrücke
zu sehen, der heute als Skulptur dient, ein Drahtseil ist von ihm zur
Willemsbrug gespannt und mit verschiedenen Metallteilen behängt.
Wir fahren über die Brücke, schauen von dort aus die
Skyline an (mit der weißen Erasmusbrug im Westen, eine
Schrägseilbrücke, Spitzname „Schwan“), und auf
der anderen Seite die Reste der Eisenbahnbrücke, die dort noch
stehen (warum auch nicht, es muss ja nicht immer alles abgerissen
werden). Zurück in der Innenstadt fahren wir zur St. Laurens
Kerk, und dann in die Fußgängerzone („Beurstraverse“);
diese liegt teilweise abgesenkt, mit niedrigen Geschäften links
und rechts, und wird daher „Koopgoot“ („Kaufrinne“)
genannt. Wir fahren mit dem Fahrrad herunter, vor uns zufällig
eine Frau mit einem schwarzen Brompton, in schöner
Dreierformation, und weiter zum Rathaus, dann an einem Grünstreifen
mit Wasserlauf und ein paar Skulpturen in Richtung Euromast.
Obwohl
es hier überall perfekte Radwege gibt, sieht man vergleichsweise
wenige Radfahrer. Auffällig ist in Rotterdam auch, dass es viele
Farbige gibt; aber radeln tun nur die Weißen. Wenn aus einem
Auto lauter Rap dröhnt und der Fahrer wie ein Henker fährt,
ist es mit 95%iger Wahrscheinlichkeit ein Schwarzer... überhaupt
gibt es hier eher verrückte Autofahrer, aber keine verrückten
Motorradfahrer wie in anderen Städten.
Den Sonnenuntergang wollen wir uns vom Euromast anschauen. Das ist
ein Turm in einem Park westlich der Innenstadt, der 1960 zur
Blumenausstellung „Floriade“ angelegt wurde. Der Turm, ca.
100 m hoch, wurde in nur 23 Tagen hochgezogen, und die
Aussichtsplattform (mit Restaurant, 240 t schwer!) am Boden
zusammengebaut und in weiteren 5 Tagen nach oben gezogen. Weil dieser
Turm eine Touristenattraktion wurde, hat man 1970 noch einmal
nachgelegt und einen Stahlmast obendrauf gesetzt (Gesamthöhe
jetzt 185 m), mit einem ringförmigen Aufzug, der an der
Außenseite des Masts fährt. Für die Zukunft ist ein
noch größerer Turm (392 m, siehe
http://www.parkhavenrotterdam.nl) direkt daneben geplant. Mit dem
Aufzug sind wir in wenigen Sekunden oben, und haben einen
fantastischen Blick über die Stadt – auf die
Erasmus-Universität, die Hochhäuser nördlich des
Zentrums, auf die Maas mit ihren beiden charakteristischen Brücken
Willemsbrug und Erasmusbrug, den sich endlos nach Westen
erstreckenden Hafen, das Viertel Delftshaven (früher, wie der
Name schon sagt, der Hafen von Delft; das einzige Viertel, das im
Krieg nicht zerstört wurde) und im Norden in der Ferne den
Flughafen. Ja, das hat sich wirklich gelohnt! Mit dem Außenaufzug
fahren wir bis auf die Spitze des Masts hoch (die Fahrt ist
aufgemacht wie ein Raumschiffstart), und bleiben danach noch auf der
Aussichtsplattform, bis die Sonne untergeht (dann wird es uns zu kalt
– hier oben weht nämlich dauernd ein Wind).
Heute müssen wir noch den Maastunnel testen, den wir gestern
beim Euromast entdeckt haben. Es gibt nämlich nicht nur den
Autotunnel, sondern auch einen für Radfahrer und Fußgänger
– ganz ähnlich wie der alte Elbtunnel in Hamburg. Mit einer
(ziemlich alten) Rolltreppe fährt man nach unten, und radelt
dann unter der Maas durch, für Fußgänger gibt es
anscheinend einen eigenen Tunnel darunter. Auf der anderen Seite ist
nicht viel los; wir fahren ein bisschen herum, es ist eben eine
typische Hafengegend, mit Gewerbegebiet, Lagerhallen usw.
Mit dem Auto geht es weiter über die Erasmusbrug nach Süden,
und dann kreuz und quer durch die Vororte zur Autobahn. Diese führt
ewig lang parallel zur Maas nach Westen, am Hafen entlang. Erst jetzt
verstehen wir, was es wirklich heißt, dass Rotterdam den
größten Hafen der Welt hat (Schwerpunkt Container und
petrochemische Produkte, einzige Zitrusversteigerung Europas,
Gesamtumschlag 300 Mio. Tonnen pro Jahr) – er zieht sich von
Rotterdam bis zur Mündung rund 30 km der Maas entlang!
Südlich des Hafens ist nicht viel los, sollte man meinen, aber
der Verkehr kommt nur zähflüssig voran; scheinbar ohne
Grund, immerhin gibt es keinen Stau. Wir fahren durch die Provinz
Zeeland, die durch große Wasserflächen und Inseln geprägt
ist, über einige Dämme, durch ein dünn besiedeltes
Land.
Wofür die Holländer berühmt sind, ist ihr System
von Kanälen, Dämmen und Poldern, mit denen sie im Laufe der
Jahrhunderte ihr Land um rund ein Fünftel vergrößert
haben. Und die neuesten und größten Dämme befinden
sich hier, in Zeeland, mit denen Haringsvliet, Greelingen und
Oosterschelde vom Meer abgetrennt wurden – um Überflutungen
einzudämmen und Land zu gewinnen, aus Meerwasserarmen mit
Brackwasser werden Binnenseen, teilweise mit Süßwasser. Um
das natürliche Gleichgewicht nicht zu zerstören, sind
manche Sperrwerke sogar so konstruiert, dass die Gezeiten zum Teil
durchgelassen werden. Dieses holländische Deichbausystem hat das
angeblich sehr sehenswerte Museum auf der Insel Neeltje Jans in der
Mitte des Oosterscheldedamms zum Thema. Wir fahren von der Straße
herunter, aber werden bereits am Parkplatz abgeschreckt: 6,50 Gulden
kostet alleine das Parken, ein Spielplatz gibt dem Ganzen einen
leichten Freizeitpark-Touch – nein, das sparen wir uns lieber, und
parken auf der anderen Seite der Straße auf einem großen
Platz, der an einem Kai endet. Direkt am Meer, kein anderes Auto weit
und breit, hinter uns der Radweg (auf dem erstaunlich viele Leute
fahren, obwohl das hier einigermaßen am Ende der Welt ist), und
vor uns, auf einem bogenförmigen Damm, eine Reihe von
Windgeneratoren. Es ist irgendwie eine seltsam bizarre,
minimalistische Landschaft. Wir steigen in die Wohnkabine, machen uns
ein paar Brote, und klappen die Rückwand der Kabine auf. Wow –
direkt neben unserem Tisch die große Weite der Landschaft und
das Meer, das ist irgendwie cool. Wir packen unsere Räder aus,
und radeln zu den Windgeneratoren rüber. Auf der anderen Seite
des Damms ist ein kleiner Badestrand (mit vielen Leuten); wir fahren
unter den Windrädern entlang bis zum Ende, von wo aus unser
Auto, das eigentlich nur gegenüber ist, schon sehr weit und
klein aussieht. Ohne es begründen zu können: diese
irgendwie minimalistische und bizarre Landschaft fasziniert uns.
Wir fahren weiter, und kommen bald nach Middelburg, der Hauptstadt
der Provinz Zeeland. Wir tanken, fahren durch die Stadt durch und
suchen uns etwas außerhalb einen Parkplatz. Dann geht es wieder
mit den Rädern auf Erkundungstour. Bevor wir in die Innenstadt
vorstoßen, bremst uns ein Bahnübergang aus, bei dem die
Schranken für zwei Züge geschlossen werden; und einige
Meter dahinter klappt dann die Zugbrücke auf, um eine ganze
Menge von Schiffen durchzulassen, die sich schon auf beiden Seiten
angesammelt hat, und auch auf Nachzügler wird noch gewartet. So
stehen wir einige Minuten vor den Schranken, und während dieser
Zeit bildet sich nicht nur eine kurze Autoschlange auf der Straße,
sondern auch eine Traube von Radfahrern auf jeder Seite (man stelle
sich das in Deutschland vor!). Von der Stadt selbst gibt es nicht
viel zu erzählen; es ist eben eine nette, kleine Provinzstadt,
mit Marktplatz (wo ein Flohmarkt stattfindet), Kanälen, vielen
Zugbrücken (die für jedes Schiff geöffnet werden),
Schiffen und einer großen Windmühle. Ganz nett.
Dann geht es über die Autobahn weiter Richtung Belgien. Belgien – was hat man sich unter diesem Land vorzustellen? Ein typisches Image wie der holländische radelnde Käsemacher in Holzschuhen, der Tulpen anbaut, in der Windmühle (ohne Gardinen) wohnt, sich gelegentlich einen Joint dreht und im Urlaub mit dem Wohnwagen unterwegs ist, gibt es von Belgiern irgendwie nicht. Dieses Land hat ja nicht einmal eine eigene Sprache. Also, was ist typisch belgisch? Der Radprofi Eddie Merckx, verschiedene Comiczeichner (belgisch sind die Schlümpfe, Tim und Struppi, ...), die europäische Union (die europäische Komission hat ihren Sitz in Brüssel), oder auch die Affäre über den Serienmörder Marc Dutroux (dessen Taten möglicherweise von Behörden gedeckt wurden, worauf die massiven Pannen bei den Ermittlungen hindeuten)? Mal sehen.
Wir fahren an Antwerpen vorbei (frz. Anvers), wo wir vor allem den
riesigen Hafen sehen, der sich auf vielen Kilometern entlang der
Autobahn (mit Straßenlampen) hinzieht. Insgesamt scheint alles
etwas heruntergekommener und dreckiger als in Holland zu sein. Bald
darauf sind wir im Norden von Brüssel, wo wir das Atomium
besichtigen wollen (seltsam, diese Stadt ist für nichts anderes
bekannt; Amsterdam hat zwar kein richtiges Wahrzeichen, aber man hat
eine Vorstellung von der Stadt: Grachten, Zugbrücken,
Blumenmarkt – aber Brüssel?). Im Norden von Belgien spricht man
übrigens holländisch, während man im Süden
französisch spricht; Brüssel liegt ziemlich genau auf der
Sprachgrenze. Welche Sprache man dort häufiger spricht, haben
wir nicht beobachten können; in ganz Belgien sind die meisten
Tafeln zweisprachig (groß in der dort bevorzugten und klein in
der anderen Sprache), und in Brüssel sind es sogar konsequent
alle Straßennamen (z.B. „Boulevard de Waterloo-laan“).
Wir sehen einen Wegweiser zum Atomium, und parken das Auto in
einer Straße in der Nähe (wer weiß, wo es sonst
Parkplätze gibt und was sie kosten), weiter geht's per Fahrrad.
An einem Fußballstadion vorbei geht es zum Eingang des
Messegeländes; alles wirkt verlassen, nirgendwo ist jemand, und
wir hätten auch mit dem Auto bis in das Messegelände
hineinfahren können, freie Flächen zum Parken gibt es
genug. Links und rechts sind ein paar Messehallen, rechts dann ein
Gebäude mit Grünanlage und Brunnen, und links in seiner
Verlängerung am Ende einer breiten, leicht abfallenden Straße
steht das Atomium in seiner ganzen Schönheit. Es macht schon
etwas her, diese Metallkonstruktion aus neun Kugeln mit jeweils 18 m
Durchmesser und einer Gesamthöhe von 102 m, die anlässlich
der Expo 1958 erbaut wurde, zu einer Zeit, als die zivile Nutzung der
Kernenergie boomte, technische Schwierigkeiten und Gefahren noch
weitgehend unbekannt waren, Politiker von Atomautos spätestens
zum Jahrtausendwechsel träumten – diesen Glauben an die Zukunft
der Kernenergie symbolisiert das Atomium. Tja, so eine
Weltausstellung hinterlässt ihre Spuren: Paris bescherte sie den
Eiffelturm (als Symbol der damals aufkommenden modernen
Stahlkonstruktion, im Unterschied zur Steinbauweise), Brüssel
das Atomium – was hat Hannover? Einen überdimensionalen
Postbriefkasten, die Preussag-Arena und vermutlich noch weitere
Sponsoring-Projekte (keine Ahnung, was noch steht und was wieder
abgebaut wurde)... was uns das wohl sagen will? Vielleicht hätte
das Motto „Mensch – Natur – Technik“ eher heißen
sollen „Globalisierung – Multimediagrößenwahn –
Werbefinanzierung“? Mal sehen, wie man das in ein paar
Jahrzehnten beurteilen wird...
Im Atomium ist in der untersten Kugel die Kasse und der Eingang;
man fährt dann zuerst mit dem Lift (hat ein gläsernes Dach,
so dass man im Aufzugsschacht nach oben schauen kann) in die oberste
Kugel, von wo man eine schöne Aussicht über das Gelände
hat. Oder besser gesagt: hätte, denn die Scheiben sind sehr
dreckig. Es steht zwar ein Schild dabei, dass man die Scheiben nicht
verschmutzen soll, weil es ein großer Aufwand sei, sie zu
reinigen – aber geputzt wurden sie wohl seit Jahren nicht mehr. Mehr
ist hier oben nicht geboten (außer eine Vitrine mit ein paar
Souvenirs, die niemand haben will), mit dem Lift geht es wieder
runter, und dann per Treppe in den ersten Stock der untersten Kugel.
Hier gibt es keine Fenster, und in dem etwas schummrig beleuchteten
Raum stehen nur Stellwände mit Dingen, die irgendwie entfernt
etwas mit dem Atomium zu tun haben, wie z.B. Zeichnungen aus Tim-und
Struppi-Comics. Über eine Rolltreppe geht es in eine der drei
Kugeln oberhalb der untersten, wo auch nur undefinierbares Zeug
herumsteht. Die Innenwände der Kugeln sind übrigens mit
Alu-Folie verkleidet (was vermutlich damals, zu einer Zeit der
technischen Aufbruchstimmung, in der die ersten Weltraumflüge
stattfanden, an ein supermodernes Raumschiff oder ähnliches
erinnern sollte), die an einigen Stellen schon Löcher hat, der
Fußboden ist ein grauer Teppichboden mit Atomium-Aufdruck...
vermutlich unverändert seit Jahrzehnten, es macht alles einen
etwas verstaubten Eindruck. So in der Art habe ich auch das
Luftkissenboot, mit dem ich vor ein paar Jahren über den
Ärmelkanal gefahren bin, in Erinnerung: Fenster dreckig, alles
nicht mehr ganz taufrisch, innen lagen Zeitschriften, in denen die
Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit dieser Meisterwerke
britischer Ingenieurkunst gelobt wurden – aber wenig später
wurde der Luftkissen-Fährbetrieb eingestellt. Die Fenster sind
hier ebenfalls dreckig, genauso wie in der mittleren Kugel, die man
über eine Rolltreppe erreicht. Die Rolltreppe ist laut einem
Schild daneben noch das Originalmodell von 1958, und daher außer
Betrieb. Ist vielleicht auch besser so. Von der mittleren Kugel geht
es über eine Treppe wieder nach unten, in eine andere Kugel auf
der zweiten Ebene (die praktisch leer ist, nur ein paar Plastikstühle
stehen darin), und von dort aus wieder nach unten zum Ausgang. In
keiner der fünf Kugeln, die man besichtigen kann, ist etwas
wirklich Interessantes, sie sind schummrig beleuchtet und riechen
muffig, und der Zugang zu den restlichen Kugeln ist gesperrt. So
faszinierend, wie dieses silbrig schimmernde Gebäude von außen
aussieht (9 Kugeln in 5 Ebenen, in Form eines auf einer Ecke
stehenden Würfels; die Kugeln sitzen auf den Ecken des Würfels
und eine in der Mitte), so enttäuschend und heruntergekommen ist
es von innen – vor allem deshalb, weil es das Wahrzeichen von Brüssel
und eigentlich von ganz Belgien ist.
Wir fahren weiter in die Innenstadt, was ein bisschen ein Blindflug ist, weil der Stadtplan im Autoatlas nur den inneren Bereich der Stadt abdeckt, und man auf der Straßenkarte zu wenige Details erkennen kann. Schließlich landen wir am Kanaal van Charleroi, am Innenstadtring, stellen dort den Pickup ab und machen uns etwas zu essen. Nach dem Essen steht der Nachtausflug in die Stadt an, wir radeln am nördlichen Innenstadtring entlang (und vermissen die holländischen Radwege... hier gibt es zwar stellenweise einen Radweg, der aber eher deutsch ist: immer wieder endet er auf der Straße, wo man fast umgefahren wird), und biegen dann nach rechts ab. An einer Metrostation sehen wir, dass wir an der Börse sind (ein klassizistisches Gebäude mit Säulenfassade), fahren durch eine Seitenstraße, und sind auf dem Grote Markt (Marktplatz). Wow! Es soll einer der schönsten Plätze Europas sein, und da ist was dran. Das Rathaus und die anderen Gebäude sehen einfach wunderschön aus, mit ihrem verspielten Zuckerbäckerstil. Kann man nicht beschreiben – nur anschauen und bewundern. In der ganzen Innenstadt ist eine ganze Menge Leute unterwegs (im Gegensatz zu den Außenbezirken, die alle etwas tot wirken), so auch hier. Wir stellen unsere Räder ab, und schauen uns etwas um. Währenddessen bleiben immer wieder Leute staunend vor unseren Rädern stehen, und auch vor der Gruppe blau verkleideter Leute, die wie Ärzte aussehen...
Wofür Brüssel auch noch bekannt ist, ist das Manneken
Pis, irgendein Brunnen, auf dem eine Figur steht und pinkelt. Wenn
wir schon einmal hier sind, sollten wir das wohl auch gesehen haben;
wir folgen den kleinen Wegweisern (denn es liegt ziemlich versteckt)
und landen an einer Hausecke mit einem kleinen Brunnen. Hinter einem
Gitter steht eine kleine Metallfigur, ein Junge, der hinunterpinkelt;
seltsamerweise hat man ihm ein Stoffkleid angezogen (was das wohl
soll?). Nein, sehenswert ist das Ding nicht. Wer es trotzdem
anschauen will: GPS auf 50,8449°N/4,3499°E
stellen. Inzwischen ist es dunkel geworden; wir fahren weiter
Richtung Osten, weil wir u.a. den Königspalast sehen wollen,
dabei beginnt es zu regnen (aber es hört zum Glück bald
wieder auf). Mangels Stadtplan finden wir den Palast nicht (wir sind
zu weit nördlich; das sehen wir bei der nächsten
Metro-Station, denn bei jeder Metrostation ist ein Stadtplan), und
fahren weiter auf der Ringstraße bzw. auf den extrabreiten
Bürgersteigen. Hier ist einiges los, Menschenmassen sind
unterwegs, Restaurants haben ihre Tische draußen – das ist
erstaunlich, weil tagsüber die Stadt oder eigentlich ganz
Belgien wie im Tiefschlaf wirkt.
Wir fahren weiter, bis wir zu einigen klassizistischen Gebäuden
kommen. Dort in der Nähe sind auch die Museen; sie liegen etwas
oberhalb des Stadtzentrums, und von hier aus hat man einen
wunderschönen Blick auf die Innenstadt mit ihren beleuchteten
Gebäuden; besonders faszinierend ist der Rathausturm, der in
wechselnden Farben beleuchtet wird und schon fast kitschig wirkt.
Unterhalb der Museen ist ein Park (alles schön beleuchtet), wo
wir uns auch noch eine Weile aufhalten, bevor wir wieder nach unten
in das Zentrum und weiter zum Auto (auf der anderen Seite des
Zentrums) fahren.
Bevor die Heimreise weitergeht, wollen wir uns noch einmal Brüssel
anschauen. Wir fahren wieder nach Osten in das Zentrum, dort den Berg
nach oben (Brüssel ist erstaunlich bergig – d.h. flache, aber
große Hügel, das sind wir von Holland gar nicht mehr
gewöhnt), und dann vorbei am Königspalast und
Parlamentsgebäude. Auch wieder etwas enttäuschend, weil
Palast und Parlament beide ziemlich trist und grau wirken, und auch
der Park dazwischen ist zur Hälfte eine Baustelle. Hier im Osten
der Innenstadt muss auch irgendwo das Europaviertel sein, mit dem
Sitz der europäischen Kommission und den Büros der
tausenden von „Eurokraten“, von hier wird zum Großteil
die Politik der EU gemacht (das Europaparlament hat vergleichsweise
wenig zu sagen). Wir folgen den Wegweisern, die uns wieder bergab
weiter stadtauswärts führen, dann fahren wir den nächsten
Berg hoch, und die Wegweiser sind verschwunden. Hier oben gibt es
einen großen Torbogen, auch eine Metrostation mit Stadtplan,
aber die Lage des Europaviertels ist nicht auszumachen. Wir drehen
um, fahren wieder Richtung Innenstadt, und dann nach Norden – ich
kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir es einfach übersehen
haben. Hier fällt uns ein stattliches Haus auf, das aber
zerbrochene Scheiben und zugenagelte Türen hat und schon
ziemlich heruntergekommen ist; krass, und das mitten in der Stadt.
Auf der gegenüberliegenden Seite hat man einen schönen
Blick auf das Atomium in der Ferne, aber weit und breit kein
Euro-Viertel. Die Wegweiser dorthin zeigen nach Süden, also
fahren wir hinterher. Dann stehen wir endlich vor dem Gebäude
der europäischen Kommission, das man aus den Nachrichten kennt
(es war wohl von anderen Hochhäusern verdeckt, als wir
vorbeigefahren sind). Es wird gerade renoviert und bekommt eine neue
Fassadenverkleidung – und das lässt es noch mehr von den
umliegenden Wohnhäusern herausstechen, die alle ziemlich dreckig
und heruntergekommen sind, und in den Straßen liegt ein
leichter Gestank. Es gibt kein protziges und exklusives Euro-Viertel,
wie wir es erwartet haben, sondern nur ein paar Betonklötze aus
den 70er Jahren, inmitten des verschlafenen und dreckigen Brüssel.
Und auch auf dem Rückweg zum Auto bestätigt sich dieses
Bild: wir kommen an einigen schönen Gebäuden vorbei, die
nur ein bisschen vergilbt sind, an ordentlichen Hauptstraßen,
aber auch durch kleine, stinkende Gassen, an dreckigen Häusern
mit Müllsäcken davor, und in der ganzen Stadt gibt es
praktisch keine Leuchtschrift oder Display, das nicht defekt ist. Ein
weiteres Beispiel ist die Treppe, die in der Nähe unseres
Parkplatzes zum Kanal hinunterführt: hier stapelt sich auch der
Müll, und es stinkt fürchterlich.
Wir machen uns mit dem Auto auf den Weg zur Autobahn; auf dem
südlichen Innenstadtring stehen wir im Stau, weil Volksfest ist
(wie in Holland!) und ein Teil der Fahrbahnen von Achterbahn,
Karussell, Riesenrad u.ä. belegt ist. Auf der Autobahn geht es
durch eine hügelige Gegend, die dann sehr waldreich und bergig
wird, als sie in die Ardennen übergeht. Spätestens ab
Brüssel könnte die Landschaft genauso irgendwo in Bayern
liegen, das flache und grasbedeckte Holland liegt hinter uns. Am
Nachmittag erreichen wir dann Luxemburg, wir fahren von der Autobahn
ab und parken das Auto in einem Wohngebiet. Mit dem Fahrrad geht es
weiter, und weil die Stadt Luxemburg ziemlich klein ist, sind wir
schnell im Zentrum – in einer Fußgängerzone, die sich dann
zu einem Platz erweitert. In der Mitte ist eine Bühne, auf der
eine Jazzkapelle spielt, viele Leute sind unterwegs, eine lebendige
Stadt. Rund um den Platz stehen Händler, die Bilder, Figuren aus
gebogenem Draht und Ähnliches verkaufen. Wir stellen unsere
Räder ab, und laufen zu Fuß weiter; überall stehen
bemalte Kühe herum, die zu einer Ausstellung namens „Art on
Cows“ gehören. Nach eine Runde um die Fußgängerzone
fahren wir weiter zu dem großen Tal, das die Stadt
durchschneidet, und fahren über eine der Brücken auf die
andere Seite. Dort drehen wir am Hauptbahnhof um, und fahren über
eine andere Brücke wieder zurück. Ja, Luxemburg ist
wirklich nicht groß, und hat auch keine besonderen
Sehenswürdigkeiten. Aber es ist eine hübsche Stadt.
Zurück am Auto machen wir uns einen Cappuccino, und dann
geht es weiter, auf einer kleinen Landstraße durch eine
hügelige Gegend mit kleinen Ortschaften, wir verlassen Luxemburg
und überqueren die Mosel. Durch das Saarland geht es weiter, ins
Saartal, und dort auf die Autobahn. Wir umfahren Saarbrücken im
Norden, und sind jetzt schon wieder auf der Suche nach einer
Tankstelle. Seltsam, auf den doch etwa hundert Kilometern seit der
Grenze gibt es kein Rasthaus an der Autobahn! Bei Zweibrücken
fahren wir herunter, und suchen eine Tankstelle, und finden ein
selten dämliches Exemplar: es gibt zwar jede Menge Zapfsäulen,
aber nur eine geöffnete Drive-In-Kasse, vor der sich der Verkehr
staut; und bevor der Vordermann nicht bezahlt hat, kann man nicht
anfangen zu tanken. Bei Pirmasens endet die Autobahn, die letzten
Sonnenstrahlen verabschieden sich, und wir erreichen auf der B427 den
Pfälzer Wald, eine sehr waldreiche Gegend (sieht man gut auf
Satellitenbildern). Es gibt kaum Ortschaften (Bad Bergzabern ist der
einzige größere Ort), die Straße schlängelt
sich endlos dahin, und das ist gar nicht so übel, denn mit dem
Pickup mit Wohnkabine kann man eh nicht schneller fahren, wir kommen
gut vorwärts, und erreichen bei Karlsruhe wieder die Autobahn.
Nachts ist kaum Verkehr, und so fahren wir weiter bis Pforzheim, wo
wir uns auf einem Parkplatz etwas zu essen kochen, und dann noch bis
Ulm-Leipheim, wo wir dann übernachten.
Als wir aufwachen, schüttet es kräftig. Wir machen uns auf den Weg, der Regen begleitet uns bis ein Stück vor München; ab dann ist es durchwachsen. Es bleibt zwar für den Rest des Tages noch trocken, so dass wir nach der Ankunft zu Hause (11 Uhr) noch problemlos die Wohnkabine abbauen und reinigen können, aber bereits am nächsten Tag hat das Regenwetter uns auch zu Hause eingeholt. Das bayerische Wetter hat uns wieder, schade. Uns bleibt nur noch festzustellen: es war ein wirklich genialer Urlaub. Kurz und anstrengend, aber wir haben sehr viel gesehen und erlebt, so viel, wie manch Anderer in mehreren Wochen nicht. Diese Tour haben wir sicher nicht bereut.
Preise:
Ähnlich wie in Deutschland; auffällig
war, dass Dinge wie z.B. Parkgebühren nirgends überteuert
waren. Es war zwar fast nichts wirklich billig, aber man kam sich
nie abgezockt vor, die Preise waren fair.
Mentalität:
Schwer zu sagen, nach so einer kurzen
Reise; aber alle Leute, die uns begegnet sind, waren offen,
hilfsbereit und unkompliziert.
Das spiegelt sich auch in vielen
anderen Dingen wider: neben der berühmten liberalen
Gesetzgebung gibt es z.B. oft keine übertriebenen
Sicherungsmaßnahmen (an vielen Kanälen in Städten
neben Straßen gibt es keine Geländer), und z.B. auch die
Eisenbahn kommt mit beschrankten Bahnübergängen statt
Unterführungen aus (und in Bahnhöfen gibt es keine
verdreckten Fußgängerunterführungen zwischen den
Bahnsteigen, sondern durch Schranken gesicherte Wege über die
Gleise).
Fahrradfreundlich:
Wohl wie kein anderes Land auf der
Welt. Jeder fährt Rad, und zwar meistens das klassische
Hollandrad: schwarz, schwer, mit großen Rädern und
Kettenschutz, keine Gangschaltung, Modell „Gazelle“. Die
Leute fahren zwar nicht schneller oder weitere Strecken mit dem Rad
als bei uns, aber sie benutzen es öfter, d.h. im Straßenbild
sieht man viel mehr Räder. Auffällig ist auch, dass diese
für uns „einfach“ und „billig“ aussehenden
Hollandräder meist mit kräftigen Stahlbügelschlössern
oder Ketten abgesperrt werden, d.h. Diebstahl scheint dort auch
nicht gerade unbekannt zu sein. High-Tech-Räder wie
Mountainbikes sieht man eher selten; fast genauso häufig sind
immerhin Liegeräder (bietet sich an – in einem Land ohne Berge,
in dem der Gegenwind der einzige Feind ist).
Das hat zur
Konsequenz, dass es ein sehr gut ausgebautes Radwegnetz gibt –
erstens gibt es überall Radwege, zweitens sind sie in einem
sehr guten Zustand, und werden deshalb auch bereitwillig genutzt. Im
Gegensatz zu Deutschland scheinen in den Niederlanden die
Radwegplaner auch Radfahrer zu sein (in D: Straßenbauamt),
denn unzumutbare Radwege (wie die meisten in Deutschland) gibt es
praktisch nicht. Alle Radwege sind breit, durchgängig, in gutem
Zustand, und hervorragend beschildert, und Radfahrer sind immer
mindestens gleichberechtigt zu Autofahrern. Ein bezeichnendes
Beispiel: bei einer Baustelle auf dem Oosterscheldedamm wurde die
Fahrbahn verengt, damit der Radweg erhalten bleibt und um die
Baustelle herumgeführt werden kann; in Deutschland hätte
man einfach den Radweg dichtgemacht, mit einem Schild, dass
Radfahrer absteigen und den Fußweg auf der gegenüberliegenden
Seite benutzen sollen (egal, wie sie dorthin kommen). Es passiert
einfach nicht, dass ein Radweg plötzlich im Nichts endet, dass
der Radfahrer an Kreuzungen und Kreisverkehren länger warten
oder öfters anhalten muss als ein Autofahrer, dass ein Radweg
nur noch Handtuchbreite hat, dass er mit Schlaglöchern gespickt
ist, dass er aus groben Pflastersteinen besteht. Stattdessen dürfen
in den meisten Einbahnstraßen die Radfahrer auch in
Gegenrichtung fahren, haben an Ampeln oft eine eigene
Linksabbiegerspur, sind bei der Ampelschaltung nicht benachteiligt
und finden überall eine gut sichtbare Beschilderung (meist
führen sogar mehrere Wege von einem Ort in den
anderen).
Übrigens dürfen, wenn es nicht ausdrücklich
verboten ist (z.B. Schild „verboden te brommen“), auch
Mofas auf den Radwegen fahren, und das wird auch oft genutzt.
Landschaft:
Immer flach. Immer! Und teilweise mit einem
sehr dichten Kanalnetz durchzogen, zum Beispiel rund um das
Ijsselmeer. Auf den meisten Kanälen kommt man mit Segelschiffen
durch, weil die Brücken als Zugbrücken realisiert sind,
und geöffnet werden, sobald ein Schiff kommt. Und das Land ist
grün, denn es ist zum größten Teil grasbedeckt;
große Felder und Wälder gibt es kaum. Stattdessen
schnurgerade Straßen, oft mit Baumreihen oder als Alleen.
Essen, Spezialitäten:
Hollandse Nieuwe:
Heringe, die man direkt vom Pappteller
isst, mit Zwiebelringen. Sehr lecker!
Vlaamse Fritjes
Eis zwischen Waffelscheiben:
Anscheinend eine weitere
holländische Spezialität; wir haben öfters gesehen,
dass man Eis nicht nur in der (tütenförmigen) Waffel,
sondern auch zwischen zwei Waffelscheiben bekommen kann.
Dropjes:
Lakritzbonbons u.ä. scheinen auch sehr
beliebt zu sein.