Reisebericht Holland 2001

von Christoph Moder

Mittwoch, 08. August 2001: Frankfurt liegt direkt hinter Bayern

Heute soll es losgehen. Endlich Urlaub, endlich den Alltag hinter sich lassen, wenn auch nur für knapp zwei Wochen – danach müssen wir lernen, uns irgendwie in Mathematik und Quantenmechanik einarbeiten, denn Anfang September erwarten uns vier Klausuren, und sie werden nicht leicht. Wir haben uns zwar schon vorher mehr oder weniger effektiv mit dem Stoff beschäftigt; aber jetzt brauchen wir eine Pause, eine Motivation, einen Neuanfang... verdammt, das Zeug ist so kompliziert und abgehoben!

Früh morgens fahre ich noch meine Eltern zum Flughafen (sie fliegen für eine Woche nach Barcelona), ruhe mich danach noch ein bisschen aus (in der Nacht habe ich kaum geschlafen, sondern bis um vier am Computer herumgebastelt) und packe dann hektisch meine Sachen. Eigentlich wollte ich schon gegen Mittag bei Michael sein, aber es wird später; gerade als ich das Haus verlasse, beginnt es zu regnen. Mit meinem riesigen vollgepackten Rucksack auf dem Rücken und noch einem kleinen Rucksack am Bauch quäle ich mein Brompton bergauf zum Bahnhof, wo ich einigermaßen durchnässt ankomme und dann endlich in der S-Bahn mein Zeug ablegen kann.

Als ich bei Michael ankomme, geht die Arbeit gleich weiter: wir bauen den Pickup um. Mit einem Flaschenzug wird in der Garage die Ladepritsche abgehoben, dann schrauben wir andere Radverkleidungen auf den nackten Hinterbau des Autos, und schon können wir die Wohnkabine holen. Dieses schwere Ding muss man zum Auto schieben (genau dann muss natürlich wieder ein kräftiger Schauer kommen) und die Stelzen mit den Rollen herauskurbeln, so dass man mit dem Pickup darunter fahren kann. Anschließend müssen nur noch die Stelzen eingezogen, die Rollen entfernt, der elektrische Anschluss hergestellt und die Verbindung zur Fahrerkabine festgeschraubt werden; danach sind wir soweit, dass wir unser Zeug und die Vorräte einräumen und Wasser einfüllen können.

Ein bisschen später als geplant sind wir „on the Road“, nach wenigen Minuten auf dem Autobahnring – und Stau! Verdammt, der war nicht angekündigt, und aus dem Radio erfährt man auch noch nicht, wie weit er geht. Und die Sonne scheint, was im Auto die Temperatur steigen lässt – vorhin wäre es uns lieber gewesen, als wir im Regen am Auto hantieren mussten. Weil erfahrungsgemäß der Verkehr zum Autobahnkreuz München Nord hin immer schlimmer wird, fahren wir bei der nächsten Ausfahrt herunter. Aber auf der Landstraße kommen wir auch nicht ordentlich voran, viel Verkehr und viele Ampeln sorgen gerade mal für ein besseres Stop-and-Go. In Ismaning biegen wir ab; das war die einzig richtige Entscheidung, denn dann ist die Straße frei, über Hallbergmoos fahren wir nach Neufahrn auf die Autobahn (neben der Flughafen-S-Bahn entlang, die direkt neben der Deggendorfer Autobahn ist). Dieser Stau hat uns doch eine Stunde gekostet.

Mit halbwegs ordentlicher Geschwindigkeit geht es weiter Richtung Nürnberg (mit Wohnkabine fährt der Pickup nur etwa 100 km/h). Die bergige Landschaft fordert eine spezielle Fahrweise: bergauf hinter den Lastwagen hinterher (die anscheinend Leistung ohne Ende haben, wir haben Mühe zu folgen), aber bergab können wir sie überholen, an jedem Berg ein paar. Im Altmühltal sehen wir neben der Autobahn die Baustelle der neuen ICE-Strecke München-Nürnberg, bei Schweinfurt den Weg, auf dem wir im Vorjahr geradelt sind (auf dem Weg zur Expo), und dann geht es dem Sonnenuntergang entgegen, an Würzburg vorbei. Im Steigerwald wird es dunkel, und dann verlassen wir endlich Bayern, irgendwo hinter Aschaffenburg. Schon erstaunlich, wir haben den ganzen Tag gebraucht, um durch Bayern zu kommen – und auch auf unserer Radtour letztes Jahr haben wir drei Tage gebraucht (und drei weitere für den Rest der Fahrt, streckenmäßig war das sogar etwas weniger).

Der Messeturm in Frankfurt

Bald darauf sind wir im Rhein-Main-Gebiet, das uns mit einem Stau empfängt. Nichts geht mehr; ein Lastwagenfahrer hinter uns hat über Funk erfahren, dass das eine kurzzeitige Totalsperrung wegen Brückenbauarbeiten ist. Er meint, solche Dinge seien der Grund, warum Fernfahrer zu lange am Steuer säßen. Wir plaudern noch eine Weile, er empfiehlt uns einen Techno-Sender, den man hier empfangen kann (es sei der beste Radiosender weit und breit), und dann geht es schon weiter.

Wenig später biegen wir nach Frankfurt ab. Von der Mainbrücke aus haben wir kurz einen fantastischen Blick auf die nächtliche Skyline, und weiter geht es Richtung Innenstadt. Bevor wir uns einen Platz zum Übernachten suchen, brauchen wir eine Tankstelle. Aber die Stadt scheint völlig tankstellenfrei zu sein; wir folgen den Wegweisern Richtung Messe und fahren auf einem Ring, der im Zickzack durch einen Grüngürtel geht. Als der Messeturm in Sicht kommt, biegen wir nach rechts ab, kommen durch ein Wohngebiet und schließlich zum Palmengarten. Erstaunlich, wie gut man sich in Frankfurt mit dem Stadtplan orientieren kann, man findet die Straßen sofort und ist immer dort, wo man es vermutet. Und noch etwas: auffällig sauber ist die Stadt. Die Wohngebiete sind genauso hoffnungslos zugeparkt wie die Münchner Innenstadt, aber alles ist sehr ordentlich. Zurück auf einer Hauptstraße fahren wir Richtung Messeturm, und von dort nach Westen hinaus. Immer noch keine Tankstelle. Wir biegen nach rechts ab, der Stadtplan endet hier, und irren herum – endlich eine Aral-Tankstelle! Wir füllen unseren Tank auf, und können dann in Ruhe nach einem Parkplatz suchen. In einer Seitenstraße beim Messeturm hinter dem Marriott-Hotel werden wir fündig; wir parken und machen uns etwas zu essen.

Paulskirche

Aber das heißt nicht, dass wir jetzt ins Bett gehen. Es ist Mitternacht, wir laden unsere Bromptons aus, und los geht's zu einer kleinen Stadtrundfahrt. Zuerst zum bleistiftförmigen Messeturm, dessen pyramidenförmige Spitze an den Kanten mit Leuchtstoffröhren beleuchtet ist; daneben ist eine mehrere Meter große Figur, die den gewinkelten Arm mit Hammer in der Hand langsam auf und ab bewegt. Und gleich in der Nähe finden wir etwas ganz faszinierendes: zwei große Ringe (Durchmesser mehrere Meter, aufrecht stehend), die aus roten bzw. blauen Neonröhren in einer Metallgitterstruktur bestehen und wirklich ziemlich bizarr aussehen – gerade wenn sie sich in den blankpolierten Steinplatten oder Wasser des Brunnens daneben oder der gegenüberliegenden Glasfassade spiegeln. Einfach genial, wir fotografieren und filmen, Gruppenbild mit Brompton. Weiter geht's, zum Hauptbahnhof. Schöner Bahnhof, und auch auffällig sauber. Wir schauen noch hinunter zur U-Bahn (eigentlich eine Straßenbahn, die streckenweise unterirdisch fährt) – dabei fällt uns die Geschwindigkeit der Rolltreppen auf, die deutlich höher als in München sein dürfte. Und noch ein weiteres faszinierendes Detail: der Tunnel am Ende des Bahnsteigs ist durch ein Gitter abgesperrt – Ordnung muss sein, auch unter der Erde.

Bei McDonald's ziehen wir uns noch was zu essen (kurz bevor das Restaurant schließt), und dann geht es weiter in die Innenstadt. Zwischenstopps gibt es bei einer Lichtinstallation vor einem Hochhaus und bei einer Filiale der Dresdner Bank, bei der rund um die Bäume vor dem Gebäude Lampen in den Boden eingelassen sind. Sieht auch edel aus. Überhaupt scheint man in Frankfurt ein Faible für glatt polierte Platten und Quecksilberdampflampen zu haben, und es macht sich auch wirklich gut. Richtung Zentrum folgen wir den Gleisen der Straßenbahn bis durch einen Torbogen, und landen auf einem Platz mit Bäumen und einer Kirche. Das muss die Paulskirche sein, die Form kenne ich doch aus dem Geschichtsbuch! Cool. Und wo ist der Römer? Ich habe keine Ahnung, er müsste ganz in der Nähe sein, weil die Straßenbahnhaltestelle auch so heißt... dann begreife ich, dass es dieses Gebäude direkt um die Ecke ist, an einem schönen Platz, mit einem Brunnen mit Justitia-Figur in der Mitte, und schönen Fachwerkhäusern, und alles ganz nett beleuchtet. Ja, Frankfurt ist überhaupt eine Stadt, die auch nachts sehr gut aussieht – gerade auch die Mischung aus Altem und Neuem, z.B. der Torbogen auf der Rückseite des Römers, daneben die Paulskirche, und im Hintergrund die Glasfassaden-Hochhäuser der Großbanken.

Wir fahren weiter, zum Dom (der nur so genannt wird, weil dort einige deutsche Kaiser gekrönt wurden; aber Bischofssitz war er nie). Auf dem Platz oberhalb ist ein in faszinierendem Rot beleuchtetes würfelförmiges Gebäude, von dessen Dach aus leuchtende „Finger“ aus Segmenten von Bauschutt-Schüttröhren nach unten hängen. Unten vor dem Gebäude findet gerade eine Vernissage oder Ähnliches statt – ja, diese Lichtinstallation hat was.

die nächtliche Skyline von 'Mainhattan'

Der Main ist unser nächstes Ziel, wo wir die beeindruckende Skyline von einer Brücke aus fotografieren (sehr empfehlenswert!). Anscheinend ist diese Brücke sehr flexibel gebaut, zumindest schwingt sie spürbar, wenn ein Fahrzeug drüberfährt, oder auch nur ein Fußgänger stramm marschiert. Dann radeln wir noch ein Stück am Main entlang nach Osten, um noch einen besseren Blick auf die Skyline zu bekommen, und danach wieder in die Innenstadt, am Bankenviertel vorbei, zur Alten Oper. Auch ein schöner Platz, auf der einen Seite die klassizistische Fassade der Oper mit Brunnen davor (ebenfalls blank polierter Marmor), auf der anderen Seite als Kontrast die Wolkenkratzer des Bankenviertels. Wir bleiben eine Weile, sitzen herum, fotografieren, und fahren dann weiter durch die Hochhausschluchten (die haben wirklich amerikanische Dimensionen) nach Norden zum Palmengarten, bevor wir zurück zu unserem Auto fahren und uns ins Bett legen. Es ist immerhin schon Viertel vor vier.

Donnerstag, 09. August 2001: Frankfurt und der Rest von Deutschland

die alte Oper, vom MainTower aus gesehen

Wir müssen noch einmal in die Stadt, sehen, wie sie tagsüber aussieht. Und am besten einmal von oben, wofür haben die auch die vielen Hochhäuser und Türme. Zuerst probieren wir es mit dem Messeturm, aber dieser vornehme Turm aus rötlichem Stein ist den Angestellten vorbehalten. So ein Unsinn, als würde das etwas ausmachen, wenn Besucher hinauf dürften – der Portier ist sowieso da, und könnte noch etwas hinzuverdienen. Dank http://www.skyscrapers.com wissen wir, dass man den „Main Tower“ der hessischen Landesbank besichtigen kann, und wir fahren dorthin. Der Eintritt kostet nur 3 DM, und mit dem sehr flotten Lift ist man schnell oben (200m). Hier oben weht ein ordentlicher Wind, und man hat einen schönen Überblick über die Stadt: im Südwesten ist der Hauptbahnhof und in der Ferne, im Wald, der Flughafen, im Westen sind die anderen Hochhäuser, im Osten die Altstadt (Römer, Paulskirche, Dom), etwas nördlich die Börse und die Zeil (das ist die Frankfurter Einkaufsstraße), im Süden der Main und im Nordosten die Alte Oper direkt unterhalb des Turms. Wieder unten, fahren wir weiter, zur Oper, dann zur Börse (liegt ein bisschen versteckt) mit den beiden Skulpturen, ein Bulle und ein Bär für Hausse und Baisse, auf dem Vorplatz. Besichtigen darf man die Börse auch; wenn man seinen Ausweis abgibt, kann man auf die Besuchergalerie gehen, von wo aus man auf den Parketthandel hinunterschauen kann. Aber viel los ist dort nicht; die Kursmarkler, die in den Schranken sitzen, wirken nicht sehr gestresst, manche lesen Zeitung, und auf dem Parkett lässt sich nur gelegentlich ein Makler blicken (der zwar wichtigtuerisch schreit, aber das beeindruckt niemand), ansonsten tote Hose. Der DAX stürzt auch gerade ab, nachdem Bayer sein Bluthochdruck-Medikament „Lipobay“ vom Markt nehmen musste, die Plätze auf der Galerie, von denen aus Fernsehteams live von der Börse berichten, sind auch alle verwaist, und in den beiden anderen Handelssälen (im 1. Stock, gegenüber bzw. auf der linken Seite der Besuchergalerie) dürfte auch nichts los sein. Etwas Infomaterial liegt aus, das die Beschriftung der großen Anzeigetafeln (Namenskürzel – Vortageskurs bzw. Kassa – erster Kurs des Tages – Maximum – Minimum – aktueller Kurs – Tendenz – Anzahl der Order) und andere Dinge erklärt (z.B. dass der Kassakurs einmal um 12 Uhr festgestellt wird, bei großen Aktien auch öfter).

die Börse, mit Bulle und Bär

Über die Zeil, die sich S-förmig durch die Stadt zieht (und dicht mit Bäumen bepflanzt ist), fahren wir zum Dom (nachdem sich Michael ein Tape für die Videokamera gekauft hat) und schauen dort kurz rein. Dann geht es weiter, zum Römer und zur Paulskirche, wo 1848 die erste deutsche Nationalversammlung stattfand. Diese Kirche mit elliptischem Grundriss brannte im zweiten Weltkrieg komplett aus, daher sieht sie heute etwas anders aus als auf den alten Gemälden: unter dem Saal befindet sich jetzt ein Stockwerk mit einer Ausstellung zur Geschichte der deutschen Demokratie, und der Saal hat keine Galerie mehr, sondern ist nüchtern-weiß, mit Fahnen an der Wand, einem Rednerpult und gegenüber einer kleinen Orgel – es ist eine politische Gedenk- und Informationsstätte, keine Kirche mehr.

der Römer

Unser letztes Ziel ist der Palmengarten, das ist eine Mischung aus botanischem Garten und Park. Im Glashaus am Eingang sehen wir uns die Sammlung fleischfressender Pflanzen an, und gehen dann nach draußen. Kurz gesagt, es ist sehr abwechslungsreich und bunt (so bunt, dass der automatische Weißabgleich der Digitalkamera im Folgenden allen Bildern einen Violettstich beschert) – und größer, als man denkt; es gibt zum Beispiel einen Springbrunnen, dessen Fontänen gesteuert werden und sich ineinander verschränken und verdrehen, hinter einem weiteren Glashaus ist ein Kieshügel mit allen Arten von Kakteen (werden im Herbst alle ausgegraben (!) und in das Glashaus gebracht), und ein Stück weiter nördlich ein Spielplatz mit einer Mosaik-verzierten Mauer. Ich kaufe mir ein Eis; ein Stück weiter am nördlichen Ende des Geländes ist ein weiteres Glashaus, wo wir auf die Schienen einer Mini-Eisenbahn treffen, die durch den Park fährt. Wir folgen den Schienen und kommen zu einem weiteren Glashaus mit einem Wasserfall und tropischen Pflanzen (und einer entsprechenden Luftfeuchtigkeit) und zu einem Berg mit Höhle und Wasserfall davor. Im daneben liegenden Teich gibt es jede Menge Karpfen, die von den Besuchern gefüttert werden und daher so fett sind, dass ihre Saugrüssel-Mäuler mehrere Zentimeter im Durchmesser haben. Durch ein weiteres Glashaus mit einer Ausstellung zu Forschern, die auf Expeditionen Pflanzen mitgebracht haben gehen wir Richtung Ausgang – leider haben wir keine Zeit mehr; hier könnte man es echt aushalten, und wir haben noch längst nicht alles gesehen. An einem Supermarkt kaufen wir schnell noch etwas ein, und radeln dann zurück zum Auto.

der Palmengarten

Mit dem Pickup geht es dann nach Westen, wo wir uns auf der A66 durch zähflüssigen Verkehr Richtung Mainz kämpfen, da Michael die Main-Mündung sehen will. So einfach ist das aber nicht, denn von Hochheim findet man keine Wegweiser nach Ginsheim, wo die Mündung ist. Irgendwann finden wir doch den Weg (nach einem Umweg über Flörsheim :-), stellen unser Auto ab, und radeln parallel zum Main, an Sportplätzen und dann an der Eisenbahn entlang, zum Rhein. Der Radweg (auf dem erstaunlich viel Verkehr ist) führt auf der Eisenbahnbrücke über den Rhein (er ist dort so schmal, dass entgegenkommende Radler nur gerade so aneinander vorbei kommen), direkt bei der Main-Mündung. Von der Brücke aus fotografieren wir, aber plötzlich schlägt ein Wolkenbruch zu; Michael rettet sich auf die andere Brückenseite und stellt sich bei einem Backstein-Turm am Brückenkopf unter, ich bin später dran und mich erwischt ein Schauer. Nachdem der Regen vorbei ist, schauen wir noch zu, wie ein Schubverband aus dem Main kommt, wendet und rheinaufwärts weiterfährt – währenddessen kommen noch zwei weitere Schiffe in Gegenrichtung vorbei. Das sind schon erstaunliche Dimensionen!

die erwähnte Eisenbahnbrücke

Über eine Landstraße fahren wir nach Norden in den Taunus, zur A3. Neben der Autobahn ist die Baustelle der ICE-Strecke von Frankfurt über den Rhein-Main-Flughafen nach Köln; auf dieser milliardenteuren Strecke, die ein ganzes Stück teurer wurde als geplant, soll in wenigen Jahren der ICE3 mit bis zu 330 km/h (daher ohne Schotter, die Schwellen liegen direkt auf Beton) über die Berge des Taunus und des Westerwalds rasen – das wird sicher ein Erlebnis, denn die Bahnstrecke hat nur wenige Tunnel, sondern verläuft wie die Autobahn bergauf und bergab. Vorne, wo man über den Lokführer nach draußen schauen kann, dürfte man sich wie in einer Achterbahn vorkommen...

Bei Bonn geht die Sonne unter, und wir nähern uns dem Ruhrgebiet. Von der Autobahn aus merkt man das vor allem, weil alle paar Kilometer ein Autobahnkreuz kommt. Und dann ist es irgendwann auf einen Schlag vorbei. Hinter dem Ruhrgebiet ist – nichts mehr. Wir fahren über ein absolut flaches Land, zuerst noch auf der Autobahn A3 und dann auf einer Landstraße (weil wir die falsche Autobahn erwischt haben), und auch die A31 führt durchs Nichts, auf ca. 30 km keine Ausfahrt. Hier ist Deutschland zu Ende, kaum ein Haus, Ort, eine Querstraße oder Kurve. Wir fahren noch bis Ahaus, stellen uns dort an den Rand der Fußgängerzone und übernachten.

Freitag, 10. August 2001: HAL I

Bis nach Enschede ist es nur ein Katzensprung. Auf einer Ringstraße umfahren wir das Zentrum, bis wir zur Twente-Universität im Nordwesten der Stadt kommen. Diese Uni ist die einzige Uni der Niederlande, die im amerikanischen Campus-Stil gebaut ist, und auf diesem Gelände findet das HAL 2001 statt.

Wir parken den Pickup, gehen zur Anmeldung (im Zelt namens „/login“). Ganz geschickt haben die es gemacht: wer seine Karten hier kauft, kann sie gleich haben; wer vorbestellt hat, wie wir, muss eine ganze Weile anstehen... so ein Unsinn. Aber die Anmeldung an sich geht dann doch recht schnell. Dabei fällt mir bei einem der anwesenden Leute ein Namensschild mit der Aufschrift „Phil Zimmerman“ auf – ist das etwa der Phil Zimmerman, der das Programm PGP, das der Standard für Mail-Verschlüsselung geworden ist, entwickelt hat? Kann gut sein... aber schon ist er weg. Wir bekommen jeder noch Infomaterial und eine Tasse, und können uns dann einen Stellplatz auf dem Gelände aussuchen. Achja, noch was: danach läuft uns Lara Croft über den Weg. Beziehungsweise jemand, der sich so verkleidet hat...

HAL2001 auf dem Campus der Twente-Uni

Mit dem Fahrrad erkunden wir erst einmal den Campus, und treffen dabei Ray und Manuel vom Münchner CCC. Für Wohnmobile sind nur wenige Stellflächen vorgesehen, und tatsächlich haben mit Abstand die meisten Leute ein Zelt dabei (auffällig: praktisch nur Iglu-Zelte). Die zentralen Plätze rund um den Glockenturm und die großen Zelte (z.B. das Hackcenter „/home“) sind schon längst besetzt, und uns bleiben nur noch die peripheren Areale. Wir können wählen: entweder haben wir Schwierigkeiten, einen Platz in der Nähe von Strom und Netzwerk zu kriegen, oder wir parken am Ende der Welt, wo man vom restlichen HAL kaum was mitkriegt. Hinter dem großen Sportplatz finden wir schließlich eine geeignete Stelle; ist zwar etwas abgelegen (bis zu /home sind es einige hundert Meter – aber es gibt noch entlegenere Areale), aber da wir unsere Bromptons dabei haben, ist das nicht wirklich ein Problem.

Nachdem wir geparkt und den Stromanschluss etabliert haben, schauen wir uns das Gelände genauer an. An einem Geldautomaten ziehen wir uns die ersten Gulden, und geben sie etwas später für das Abendessen aus: an einem Stand gibt es Pfannkuchen mit Jolt (sind das etwa die Grundnahrungsmittel holländischer Hacker?), Google-T-Shirts werden dort auch verkauft (keine Ahnung, was das miteinander zu tun hat). Der Verkäufer ist ein Chaot: zuerst fliegt ein Pfannkuchen bei dem kühnen Versuch, ihn durch Hochwerfen zu wenden, in hohem Bogen ins Gras, und dann vergisst er, die Heizplatte wieder anzustecken...

bunte Stände auf dem HAL

In /home beginnt währenddessen die Wau Holland Memorial Session, und wir kommen etwas verspätet dort an. Er war schon eine faszinierende Persönlichkeit; zuletzt habe ich ihn zu Ostern in Hamburg gesehen, dort hat er über seine Erfahrungen mit der Post bzw. später der Telekom erzählt. Der Alterspräsident des CCC saß da wie ein Märchenonkel, umgeben von den jungen Hackern, die interessiert zuhörten... wer hätte gedacht, dass er nur wenige Monate später stirbt. Hier hoffe ich, etwas mehr über diesen Menschen mit visionären Ansichten zu erfahren – aber das Zelt ist brechend voll, keine Chance, etwas zu verstehen. Schade. Wir schauen stattdessen etwas herum, laufen zwischen den Zelten (manche haben sie mit Tarnnetzen verziert, einmal sehen wir auch ein Telekom-Zelt; Hacker-Ironie!) entlang und beobachten dann die Feuerspucker, die auf der Wiese vor dem Zelt aktiv sind.

Samstag, 11. August 2001: HAL II, Freedom Downtime

der Bauwagen mit dem Switch

Jetzt wird es langsam Zeit, dass wir uns um einen Anschluss an das Netzwerk kümmern. Wir hatten uns gedacht, dass es reichen müsste, ein kurzes Kabel mitzunehmen, weil man sich sicherlich bei jemand in der Nachbarschaft einstöpseln kann – aber im Gegensatz zum Chaos Communication Camp vor zwei Jahren ist hier der Abstand zwischen den Zelten viel größer. Aber wir wollen uns nicht extra für dieses Event ein teures Kabel kaufen. Zufällig erfahren wir, dass es die Kabel kostenlos gibt: eine Firma hat einige Kilometer gespendet, man kann sich selber ein Stück abschneiden, das vom nächsten Bauwagen (wo der Switch steht) bis zum eigenen Zelt oder Wohnmobil reicht. Jemand leiht uns seine Crimpzange (und schenkt uns die nötigen Stecker), ein anderer hilft uns bei der richtigen Anordnung der Adern... und schon sind wir online.

Und darum verbringen wir den Tag vor unseren Laptops, weil die Vorträge und ein Quiz („Where lives Big Endian? Alphaland, Poland, MIPSland, Cleveland or SPARCland?“) alle ziemlich flau wirken. Lediglich zum Duschen und Einkaufen verlassen wir die Wohnkabine. Die Leute in den Zelten um uns herum machen es anscheinend auch nicht anders: im Lieferwagen nebenan sieht man sie stundenlang vor den Rechnern sitzen; im Zelt auf der anderen Seite kommen sie nur nach draußen, um Bier zu holen und zu grillen, schließlich rollt einer nach draußen und kotzt ausgiebig. Man kann es auch übertreiben.

Zelte und Wau-Holland-Memorial

Am Abend wird ein Film gezeigt: „Freedom Downtime“ heißt er, und wurde vom amerikanischen Hacker Emanuel Goldstein gedreht. Als wir in den Saal kommen, läuft dort noch eine Diskussion über Drogen, und dann beginnt der Film. Er handelt von dem amerikanischen Hacker Kevin Mitnick, der in einem Gerichtsverfahren mit fadenscheinigen Argumenten zu einem Staatsfeind hochstilisiert und zu mehrjähriger Haft verurteilt wurde. Um Kevins Geschichte in die Öffentlichkeit zu bringen und die Inkompetenz der amerikanischen Politik und Justiz in Sachen Computer und Computersicherheit aufzuzeigen, haben seine Freunde diesen Film gedreht. Interessant ist er, aber leider auch etwas unstrukturiert und zieht sich ziemlich in die Länge. Vielleicht hätten wir uns lieber zu den holländischen Studenten setzen sollen, die am Holzturm ein Lagerfeuer machen.

Sonntag, 12. August 2001: HAL III, Die große Flucht

Hacker-Jeopardy

Gegen Mittag steht ein Pflichttermin an: Hacker-Jeopardy, veranstaltet von den Leuten des Münchner CCC (http://www.muc.ccc.de). Genauso wie beim Jeopardy im Fernsehen werden Antworten gegeben und die dazugehörigen Fragen gesucht, allerdings mit Hacker-relevanten Themengebieten, wie „/etc/services“ (TCP/IP Dienste und ihre Ports), „Line Noise“ (welcher charakteristische Datenstrom wird von welchem Protokoll (z.B. ppp) verursacht) und „256“ (alles zur Zahl 256, in verschiedenen Zahlensystemen). Die Punktetafel wurde von Sec in Perl programmiert (http://www.42.org), und vom Notebook mit einem Beamer auf die Leinwand geworfen; die Buzzer sind Notausschalter (wie bei großen Elektrogeräten verwendet), die über Manuels ziemlich wild aussehende Schaltung (auf einem Experimentierboard zusammengesteckt) an einen Mikroprozessor angeschlossen sind (der sie per Interrupt abfragt und ihre Stellung über ein serielles Kabel an das Notebook meldet). Cool! Jeder Kandidat bekommt eine Dose Jolt (das Hackergetränk schlechthin, Cola mit viel Koffein), Ray betätigt sich als Zufallsgenerator, Sec ist Moderator, und Manuel bedient den Laptop – ein Riesenspaß, für mich eigentlich das Highlight des HAL.

Danach erklärt mir Manuel seine Mikroprozessorschaltung, und ein kurzer Regenschauer treibt uns in unsere Zelte/Wohnmobile zurück. Nachmittags wäre ein Vortrag von Sec über seine Erfahrungen mit Wardriving an der Reihe, aber es setzt ein derart massiver Wolkenbruch ein, dass man sich beim besten Willen nicht ins Freie begeben möchte; es schüttet weitere zwei Stunden, rund um uns herum reißen alle hektisch ihre Zelte ab und verschwinden, gegen Abend sind ungefähr drei Viertel der Leute abgereist. Auch die Veranstalter beginnen mit dem Abbau; als ich mir noch ein HAL-T-Shirt kaufen will, ist /home schon fast abgebaut, und auch das Netzwerk geht nicht mehr. Aber wenigstens regnet es abends nicht mehr, und wir nutzen die Chance zu einem Ausflug nach Enschede. In der Stadt ist nicht viel los (kein Wunder, Sonntag abends), wir kommen durch eine kleine Fußgängerzone, und sehen dann etwas entfernt eine Ruine eines Hochhauses. Ob das die Gegend ist, wo vor gut einem Jahr eine Feuerwerksfabrik explodiert ist und ein ganzes Stadtviertel verwüstet hat? Wer weiß, wir finden keine Hinweise darauf, es könnte auch irgendwo weiter in den Außenbezirken gewesen sein. Wir radeln noch ein bisschen herum, helfen einem kleinen Jungen, dessen Fahrradkette rausgesprungen ist, danach fahren wir wieder zurück.

in Enschede

Weil wir in den nächsten Tagen nicht unbedingt auf Campingplätzen sein werden, füllen wir mit Kanistern unseren Wassertank auf und lassen das Abwasser ab. Ein paar Holländer sprechen uns an, ob wir nicht Lust auf eine Netzwerksession hätten – warum nicht, aber... wir lassen es dann doch bleiben, und radeln stattdessen über das Gelände. In der Ecke um den Glockenturm, wo sich die Deutschen niedergelassen haben, ist noch etwas los, die Holländer sind alle weg. Ich kaufe mir ein T-Shirt bei Interhemd Nerdwear (http://www.interhemd.de), wir besichtigen den Monolithen von den Berliner C-Base-Leuten (http://www.c-base.org) (ein schwarzer , ca. 3 m hoher Quader, der aufrecht in der Wiese steht und elektromagnetische Wellen in Schall umsetzt; wenn man sich ihm nähert oder sonstwie das Feld stört, verändert sich die Frequenz des Piepstons, den er aussendet), und das Wau Holland-Memorial (Alterspräsident und einer der Gründungsmitglieder des CCC, ist kurz zuvor verstorben, http://www.wauland.de). Außen herum stehen die Zelte vom CCC Hamburg, Berlin und Ruhrgebiet.

Montag, 13. August 2001: Kühe und Schafe zählen

Nachdem schon gestern der größte Teil des HAL abgebaut wurde, gibt es nichts mehr, was uns noch hier hält. Das, muss man sagen, war beim Chaos Communication Camp 1999 bei Berlin besser: nach dem letzten Tag lief der Abbau langsam und gemütlich, bis zum darauf folgenden Abend funktionierte das Netz noch, es herrschte keine solche „Rausschmeiß-Atmosphäre“. Überhaupt ist das Camp in so mancher Hinsicht ungeschlagen, zum Beispiel die Lichtinstallation aus Leuchtstoffröhren und das Art&Beauty-Tent von C-Base (http://www.c-base.org), die Essensversorgung (die Wagenburg, wo „Wagenburger“ verkauft wurden, der Chai-Shop mit chinesischen und thailändischen Spezialitäten) und die Atmosphäre im Hackcenter werde ich wohl nie vergessen.

Zwolle, Geisterbahn vor der Kirche

Über Hengelo und Almelo fahren wir nach Nordwesten, durch eine sehr ländliche und dünn besiedelte Gegend. Hier gibt es vermutlich mehr Kühe als Menschen, und bei dem dunstigen und bewölkten Wetter gibt es auch keinen Grund, sich hier aufzuhalten. Irgendwo müssen wir wir vor einem Bahnübergang warten; hier haben also auch entlegenere Gegenden einen angemessenen Bahnanschluss. Der Triebwagen ist modern und schnell unterwegs, die Schranken nicht unnötig lange geschlossen – warum geht das in Deutschland nicht?

Zwolle

Zwolle ist der erste Ort, den wir heute besichtigen. Wir sind begeistert über die Wasserläufe, die die Stadt von fast allen Seiten umgeben, die Hausboote und die Zugbrücken – nicht wissend, dass das für Holland eher die Regel als die Ausnahme ist. Und im Zentrum entdecken wir noch etwas, was für uns Deutsche etwas sonderbar ist: ein Volksfest. Es befindet sich nicht etwa auf einem speziellen Festplatz, sondern auf den Straßen der Innenstadt. Schießbude neben Autoscooter, in einer Nebengasse ist die Achterbahn aufgebaut (haarscharf an den Häusern vorbei), und vor der Kirche steht die Geisterbahn.

Kampen

Das nächste Ziel ist die Nachbarstadt Kampen. Die Wegweiser leiten uns nach Süden auf die Autobahn (ein Umweg, aber die kleine direkte Straße finden wir nicht); dort tanken wir, und sind kurz danach in Kampen. Diese hübsche Stadt liegt an der Ijssel (anscheinend kein „richtiger“ Fluss, sondern ein Seitenarm des Rheins), und schmiegt sich mit ihrem elliptischen Grundriss an das Flussufer. Umgeben ist die Stadt von einer durchgehenden Stadtmauer, deren Tore sich angeblich wasserdicht verschließen lassen. Wir parken an einem Kanal, der sich längs durch die ganze Stadt zieht (und mit merkwürdigen, unzusammenhängenden Begriffen am Ufer beschriftet ist – soll das ein Kunstprojekt sein?), und radeln zuerst zum Ijssel-Ufer und zur dortigen Hebebrücke. Der Fluss ist hier, kurz vor der Mündung ins Ijsselmeer, sehr breit und wird von großen Schiffen befahren, darum muss die Brücke jedesmal, wenn ein größerer Kahn kommt, angehoben werden. Das geschieht überraschend schnell und lautlos. Danach geht es zurück in die Stadt (die leider wegen des bedeckten, grauen Himmels nicht so ganz zur Geltung kommt), wir fahren durch die Fußgängerzone (Backsteinhäuser, und über der Straße gespannte bunte Bänder), vorbei am Glockenturm (das Glockenspiel spielt das Papageno-Lied aus Mozarts „Zauberflöte“), und besichtigen anschließend noch die „Kirche unserer lieben Frau“, ein von außen sehr romanisch-wuchtig aussehendes dreischiffiges Gotteshaus, das aber innen gotisch und recht einfach gestaltet ist. Nachdem wir die Kirche betreten haben, schauen wir uns etwas schüchtern um; ein Mann, der an einem Tisch sitzt, bemerkt uns und gibt uns unaufgefordert ein Faltblatt mit einer Beschreibung der Kirche – am Regal steht, dass diese Zettel einen geringen Unkostenbeitrag kosten, aber wir könnten es nachher wieder zurücklegen, meint der Mann. Schön, diese unaufdringliche Hilfsbereitschaft.

Blokzijl: Segelboote vor den Häusern

Etwas nördlich von Kampen liegen die Orte Blokzijl und Giethoorn, die laut Reiseführer beide interessant sind; die müssen wir auch anschauen. Wir fahren über die Ijssel und sind kurze Zeit später in Blokzijl. Das Auto wird außerhalb neben einer Wiese geparkt (dann können wir direkt durch die Heckscheibe Schafe zählen!), und wir ziehen los. Wir kommen zu einem Kanal und zu einer Schleuse, hinter der der Hafen liegt. Für so ein kleines Städtchen ein beachtlicher Hafen! Angeblich war diese Stadt früher ein Piratennest; das ist heute vorbei, nachdem die Nordseebucht Zuidersee durch mehrere Dämme vom Meer abgetrennt ist und jetzt Ijsselmeer heißt, und mehrere Polder vor den Ufern des Ijsselmeers Blokzijl einige Kilometer ins Landesinnere gebracht haben. Aber es ist ein hübscher Ort; mehrere Kanäle durchziehen ihn, so dass viele Häuser ihre Segelschiffe direkt vor der Haustür haben. Dass sie damit unter den Brücken nicht durchkommen, stört nicht, denn erstens sind die zentralen Brücken alles Zugbrücken, und zweitens haben oft beide Seiten einer Brücke Anschluss an das Kanalnetz. Auf der anderen Seite von Blokzijl entdecken wir einen zweiten Hafen, der auch nicht wirklich klein ist. Ein Seglerparadies! Zurück am Auto machen wir uns Abendessen und schauen noch einen Film auf dem Laptop an („Lara Croft“ – so ein Schrottfilm!). Und danach gibt es noch einen Nacht-Trail in den Ort.

Dienstag, 14. August 2001: Im Seglerparadies

Morgens fällt uns auf, dass im Laufe der Zeit zahlreiche Autos kommen, von denen die meisten Fahrräder dabei haben. Sie parken, laden die Räder ab und radeln los – anscheinend ist Blokzijl auch für Holländer ein Ausflugsziel.

Giethoorn, bei der Kirche

Aber wir fahren weiter nach Giethoorn, das auch „Venedig des Nordens“ genannt wird. Der Dunst verzieht sich, und die Sonne kommt durch: so sieht die Welt doch gleich viel freundlicher aus als mit dem gestrigen Hochnebel. Die Straße, auf der wir von Norden kommen, führt neben einem breiten Kanal entlang, auf dem ein ordentlicher Schiffsverkehr herrscht. Was hier so toll sein soll, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen; egal, wir parken, und radeln los, an einem Seitenkanal entlang. Dort gibt es einen Bootsverleih, und weiter hinten, bei der Kirche, fängt Giethoorn richtig an: wir treffen auf einen weiteren Kanal, an dem die Häuser liegen; zu jedem Haus führt eine Brücke über den Kanal, und auf dem Kanal sind jede Menge Touristen in Leihbooten (lange, schmale Boote mit Elektro-Außenbordern) unterwegs. Die Häuser, meist Reet-gedeckt, sind sehr hübsch hergerichtet, mit netten Gärten – alles ist sehr idyllisch und sehenswert, es erinnert mich an den Spreewald. Wir radeln am Kanal entlang nach Süden bis zum Ortsende, dann wieder zurück; etwas östlich ist ein See, und ein Damm führt zur einer Insel mit Restaurant.
Hier müssen wir die Fahrräder stehen lassen (überall sonst Giethoorn: Touristen auf den Kanälen war Rad fahren selbstverständlich erlaubt, auch über die engen Brücken), eine Scheune steht als Abstellplatz bereit. Das ist schon nicht schlecht, neben dem Ort ein See, der auch als Seglerparadies taugt – auch die Kanalanbindung ist nicht schlecht, auf einer Karte zähle ich sechs Verbindungen zwischen dem Kanal durch Giethoorn und dem See. Und das ist ja noch nicht alles, in der näheren Umgebung gibt es drei weitere Seen, alle miteinander über ein Kanalnetz und sicher auch mit dem Ijsselmeer verbunden, und überall Zugbrücken, damit auch Segelboote durchkommen. Neben dem Damm ist ein Campingplatz, bei dem die Leute neben ihren Wohnwägen ihre Boote haben – Camping auf holländisch! Auch nördlich des Sees ist eine Kleingartensiedlung, wo Kinder mit Motorbooten herumfahren so wie bei uns mit Fahrrädern, und einige alte Windräder stehen verloren im endlosen Schilfgürtel. Dann geht es zurück Richtung Auto; auf der anderen Seite des großen Kanals sehen wir zwei Häfen für Segelschiffe, und einige Radlergruppen kommen uns entgegen. Radfahren und segeln – das ist wohl die holländische Lebensart, die könnte auch uns gefallen.

Urk, hinten sieht man den Leuchtturm

Als nächstes fahren wir nach Urk, einem Fischerdorf am Ijsselmeer. Es liegt auf dem Noordoostpolder, und ist daher wohl noch nicht so alt (der Polder muss irgendwann im 19. Jahrhundert entstanden sein). Wir machen einen Rundgang; faszinierend ist, wenn direkt hinter den Häuserfassaden die Masten von Segelschiffen vorbeiziehen. Über dem Ijsselmeer liegt Dunst, daher kann man nicht auf die andere Seite schauen (die nur etwa 20 km entfernt sein dürfte), und der schnurgerade Deich nach Norden verliert sich ebenfalls im Nichts – sieht cool aus! Eigentlich ein ganz netter Ort, aber nicht unbedingt sehenswert, nichts besonderes (der Reiseführer hat hier etwas zu viel versprochen). Wir sparen uns, den Leuchtturm zu besichtigen, kaufen uns noch ein Eis, und fahren weiter. Über die Autobahn geht es nach Flevoland, ein riesiger Polder im Ijsselmeer. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese riesige Fläche früher einmal Meeresgrund war! Entlang der Autobahn ziehen sich endlos riesige Windkraftanlagen, und dann erreichen wir Lelystad. Besonders sehenswert ist diese Stadt angeblich nicht, und der Blick von der Autobahn aus bestätigt das: moderne Häuser, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Stattdessen fahren wir auf den Damm, der Lelystad mit Enkhuizen auf der anderen Seite des Ijsselmeers verbindet. Nicht schlecht, ein etwa 30 km langer Damm, dessen Benutzung kostenlos ist! Irgendwo in der Mitte ist ein Parkplatz, wo wir kurz anhalten. Über den Damm geht neben der Straße ein Radweg, der auch intensiv genutzt wird: alle paar Minuten kommt ein Radler vorbei.

Blick von Urk nach Norden über den Ijsselmeer-Deich

Dann sind wir in Enkhuizen. Markant ist ein Tor mit dicken Rundtürmen (und Glockenspiel, wie es sich für eine ordentliche holländische Stadt gehört), hinter dem die Innenstadt beginnt. Ein Kanal führt vom Ijsselmeer hinter dem Tor vorbei in den Stadthafen; über eine Zugbrücke überqueren wir den Kanal (auf Fahrrädern), und weiter durch den nördlichen Teil der Stadt bis zum Ijsselmeer-Museum. Das Museum zeigt, wie die Leute hier früher gelebt haben; ein Museumsdorf mit Fischernetzen usw. ist von außen erkennbar. Wir nehmen uns aber nicht die Zeit, es zu besichtigen, und fahren weiter auf dem Damm, der rund um die Stadt geht. Von dort aus geht es zurück in die Stadt, an der Kirche vorbei, und als wir einen Aldi sehen, wird gleich eingekauft (muss man ausnutzen, wenn man auf einen Supermarkt stößt). Ein kleiner Snack wäre jetzt nicht schlecht... vielleicht gibt es irgendwo Heringe. Das ist zwar nirgendwo direkt angeschrieben, aber wir finden am Stadthafen ein Fischgeschäft mit einer Tafel „Hollandse Nieuwe“ – dank meines Reiseführers weiß ich, dass damit Heringe gemeint sind, und bestelle mir „een haring“. Schmeckt lecker!

Enkhuizen: Stadthafen mit Zugbrücke und dem dicken Stadttor

Bevor wir in die nächste Stadt fahren, radeln wir noch einmal schnell zum Anfang des Ijsselmeer-Damms, weil es dort Windkraftwerke gibt, die wir uns aus der Nähe anschauen wollen. Direkt neben der Schleuse befinden sich ein halbes Dutzend, und drehen sich praktisch lautlos, dazwischen hat es sich ein Ehepaar zum Picknick gemütlich gemacht – Windräder sind eine elegante Art der Stromerzeugung. Aber sie scheinen groß zu sein: der Damm, auf dem sie nebeneinander aufgereiht stehen, ist fast einen Kilometer lang! Auf dem Rückweg ist die Schleuse durch den Ijsselmeer-Damm geöffnet, und auch die Klappbrücke; die Autos stauen sich schon etliche hundert Meter auf dem Damm zurück, da macht es extra Spaß, auf dem Rad bis zur Brücke an ihnen vorbeizuziehen.

Windräder am Ijsselmeer-Damm

Hoorn erreichen wir am späten Nachmittag. Das Auto wird vor dem Bahnhof geparkt, und los geht's in die Fußgängerzone, in der Einiges los ist – vor allem weiter hinten, wo ein Volksfest tobt; wie üblich ziehen sich die Fahrgeschäfte durch mehrere Straßen hin, das Riesenrad steht ebenso selbstverständlich direkt vor einem Kirchturm wie die Achterbahn die Hälfte einer Durchgangsstraße belegt. Es ist ein hübscher Ort; durch die Fußgängerzone mit Backsteinhäusern links und rechts und den in Holland anscheinend unvermeidlichen Verzierung aus Bändern über der Straße gelangen wir zum Hafen, oder genauer zu einem der Häfen. Das Hafenbecken verjüngt sich hier zu einem Kanal, der unter einer Zugbrücke hindurch in die Stadt geht (und nur an den wenigsten Stellen überhaupt ein Geländer oder andere Absperrung hat), und an der Seite des Hafens ist ein charakteristischer Backsteinturm. Dahinter ist ein Steg, an dem die größeren Schiffe festmachen; für die kleineren gibt es etwas weiter südlich einen riesigen Yachthafen. Dort setzen wir uns auf eine Bank, genießen den Sonnenuntergang und beobachten die Jetski-Jünger, die unablässig ihre Runden drehen.

Über den alten Hafen geht es zurück; hier fällt uns eine Baustelle auf, bei der ein Stück eines Kanals mit Spundwänden abgetrennt und leergepumpt wurde, anscheinend um die Häuser sanieren zu können. Der Radweg wurde hier komplett auf einen provisorischen Weg aus Holzbohlen umgeleitet – in Deutschland hätte es gerade mal für ein Schild „Radfahrer bitte absteigen“ gereicht. Bald danach sind wir wieder beim Auto, und machen uns etwas zu essen. Weil immer wieder Autos vorbei fahren, wollen wir uns für die Nacht einen ruhigeren Ort suchen, und machen uns nach Süden auf. Auf der Suche nach dem direkten Weg verfahren wir uns ein paar Mal, und landen doch wieder auf der Schnellstraße. Egal; bei Edam fahren herunter, stellen uns irgendwo an den Stadtrand und übernachten.

Mittwoch, 15. August 2001: Wahnsinn Teil 1

Wenn wir schon in Edam sind, dann müssen wir auch den Edamer Edam: Käsemarkt sehen. Rauf auf die Räder, und ab dorthin, wo wir meinen, dass die Stadtmitte ist. Wir kommen an einer Windmühle am Stadtrand vorbei, biegen dort ab (weil wir ja ins Zentrum wollten) und sind kurz danach an einem Platz mit Kirche, wo ein tonnenförmiges Gewölbe über den Kanal gemauert ist. Aha, schonmal nicht schlecht. Aber eine Straße weiter ist richtig was los: hier ist der Käsemarkt, und ein Stand reiht sich an den anderen.

In der Mitte drängt sich eine Menschenmenge, denn hier wird der Käsehandel, wie er früher üblich war, nachgespielt. Alle Beteiligten tragen Tracht, rund um die große Waage einigen sich Bauern und Händler über den Preis, je zwei Träger tragen die Käselaiber auf Holzgestellen, die sie an Schulterriemen tragen, im Laufschritt über den Platz, und auf der Tafel wird der aktuelle Käsepreis notiert; außen herum stehen Frauen, die wie „Frau Antje“ aus der Werbung aussehen – soviel zur Handlung. Und damit die Touristen das auch verstehen, gibt es einen Moderator, der alles erklärt – und zwar auf englisch, italienisch und deutsch. Wenn schon so viel Aufwand getrieben wird, um den Touristen das zu bieten, was sie sehen wollen, dann darf natürlich die Musik nicht fehlen, die von einer Kapelle geliefert wird. Mir wurde aber nicht ganz klar, was der Zillertaler Hochzeitsmarsch und „oans, zwoa, gsuffa“ mit holländischer Volksmusik zu tun haben... Nichts wie weg von dem Trubel. Wir besichtigen die Kirche (nachdem ich mein Fahrrad wieder fit gemacht habe – jemand hat mir die Luft aus dem Reifen gelassen), und fahren dann am Kanal zurück ins Zentrum. Erst jetzt fällt uns auf: der Käse, der am Markt verkauft wird, wird hier mit einem Ruderboot angeliefert und dann von den Trägern abgeholt... bei diesem Käsemarkt wurde wirklich auf jedes Detail geachtet!

Edam: Käseauktion

Für die Stadt Volendam ganz in der Nähe nehmen wir uns keine Zeit, sondern fahren weiter bis nach Marken; eine Insel, die über einen Damm mit dem Festland verbunden ist. Weil die Insel autofrei ist, muss man am Ende des Damms kostenpflichtig parken und kann dann zu Fuß oder mit dem Fahrrad weiter. Marken ist eigentlich nichts Besonderes; nur eine Menge hübscher, kleiner Häuser, die alle sehr ähnlich aussehen und einige schneeweiße Zugbrücken dazwischen. Dass die Häuser so klein sind, liegt daran, dass die Insel erst seit 1959 einen Deich hat – zuvor mussten sich die Häuser zum Schutz vor Überflutung auf die flachen Hügel quetschen.

Marken: Häuser am Hafen

Dann sind wir auch schon fast in Amsterdam, wo wir uns einen schönen Campingplatz suchen wollen. Im Norden gibt es einen, wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Aber der ist schon voll, außerdem ist er nicht billig und man muss mindestens drei Nächte bleiben. Wir werden weitergeschickt zum Campingplatz im Südosten, der ein ganzes Stück weiter vom Zentrum entfernt ist; aber der ist auch schon voll. Nur am dritten Campingplatz im Südwesten, in der Nähe des Flughafens, gibt es noch Plätze. Wahrscheinlich, weil er immerhin 15 km vom Zentrum weg ist und kein Bahnhof in der Nähe ist. Nachdem wir den Pickup installiert haben, brechen wir zu einer Radtour nach Amsterdam auf.

Die Radwege sind sehr gut ausgeschildert, es gibt sogar mehrere verschiedene Routen. Traumhaft. Wir fahren immer geradeaus, um ins Zentrum zu kommen; bei diesen vielen Grachten (die alle gleich aussehen) fällt die Orientierung nicht gerade leicht. Schließlich landen wir bei einer großen Säule – es ist das Nationalmonument; belagert von Scharen von Jugendlichen, die es sich dort bequem gemacht haben. Und jetzt? Die Radtour hat uns hungrig und durstig gemacht, wir holen uns bei KFC etwas zu essen. Bereits hier fällt uns auf, dass niemand holländisch spricht; in der ganzen Innenstadt ist anscheinend Englisch die Alltagssprache. Diese Menschenmassen, die überall unterwegs sind, die vielen Jugendlichen – das scheinen alles Touristen zu sein, das Stadtzentrum ist multikulturell und fest in ausländischer Hand.

Marken: Leuchtturm

Anschließend fahren wir zum Hauptbahnhof, der sehr zentral liegt, praktisch am Mittelpunkt der konzentrischen Grachten-Ringe. Hier ist das Zentrum des öffentlichen Verkehrs, Züge gehen von hier aus in alle erdenklichen Richtungen, sowohl in die verschiedenen europäischen Metropolen als auch holländische Provinznester. Selbst einen Güterzug sehen wir in der Bahnhofshalle, der Funken sprühend bremst, und auf der anderen Seite des Bahnhofs, der direkt am Wasser ist, liegt ein riesiges Passagierschiff. Wo derart viele Verkehrsverbindungen zusammenkommen, dürfen natürlich auch Fahrräder nicht fehlen; und deshalb gibt es neben dem Bahnhof ein Fahrradparkhaus. Und zwar von den Ausmaßen durchaus vergleichbar mit Parkhäusern für Autos! Zig Meter lang und über drei Stockwerke reiht sich ein Hollandrad an das andere, freie Plätze gibt es praktisch nicht. Wie die hier wohl ihr Rad wiederfinden?

Bevor wir wieder zurück zum Campingplatz fahren, radeln wir noch kreuz und quer durch die Innenstadt, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Nach Einbruch der Dunkelheit werden wir von einem Schauer überrascht, der aber so schnell wieder aufhört, wie er gekommen ist (und warm ist es immer noch, weil es den ganzen Tag sonnig war). Aber es sind immer noch sehr viele Leute in der Stadt unterwegs, viele mit dem Fahrrad, und keiner fährt mit Licht. Überhaupt: viele haben einen ziemlich geisteskranken Fahrstil. Fahren mit hohem Tempo, biegen schwungvoll in Vorfahrtsstraßen ein – natürlich ohne zu schauen, fahren freihändig und in Schlangenlinien zwischen den Autos und Fußgängern... dass nichts passiert, liegt daran, dass die Autofahrer extrem vorsichtig fahren; sie wissen, dass sie gegen diese Übermacht von Verrückten nichts ausrichten können.

Als wir zum Rückweg aufbrechen, sind wir außerhalb unseres Stadtplans. Wir finden einen Weg am Fluss entlang nach Süden, beim Autobahnring biegen wir nach Westen ab, irren etwas herum und landen schließlich auf dem richtigen Weg. Es ist schon etwas trickreich: von hier aus führen fast alle Wege nach Amsterdam, aber in Amsterdam muss man sich schon genau auskennen, um den Weg zurück nach Amstelveen/Bovenkerk zu finden, schließlich sind das alles andere als Großstädte. Naja, so schlecht war unsere Route auch wieder nicht, eben ein paar Kilometer Umweg.

Donnerstag, 16. August 2001: Wahnsinn Teil 2

Wie gestern geht es mit dem Brompton ins Zentrum, dabei liefern wir uns unterwegs ein Rennen mit Rennradfahrern (sie schaffen es nicht, uns abzuhängen). Unterwegs kauft Michael eine neue Videokassette, wieder wissen wir nicht so genau, wo wir uns befinden, und wieder landen wir am Nationalmonument – anscheinend kann man da nichts falsch machen.

Westerkerk

Und dann? Eigentlich hat Amsterdam nur wenige berühmte Gebäude, die Stadt an sich scheint etwas Besonderes zu sein. Der Reiseführer empfiehlt als erstes einen Blick vom Turm der Westerkerk (85 m hoch; die charakteristische Krone an der Spitze ist ein Dankesgeschenk vom österreichischen Kaiserreich), und das machen wir auch. Vorbei an den menschlichen Statuen, die gegenüber vom Nationalmonument herumstehen und den Touristen, die die Scharen von Tauben füttern, fahren wir zur größten Kirche von Amsterdam (sogar die größte protestantische Kirche der Niederlande). Die 1631 fertiggestellte Kirche ist sehr hell und hoch (28 m), und auffällig ist wieder die Anordnung der Stühle (es gibt keine durchgehenden Bänke): sie sind auf die große hölzerne Kanzel, die seitlich an einer Säule befestigt ist, ausgerichtet, und nicht auf den Altar. Über allem hängen die goldenen Kerzenleuchter – auch etwas, was offenbar typisch für holländische Kirchen ist.

Westerkerk: Innenansicht

Bei der Turmführung sind keine Plätze mehr frei, deshalb schauen wir uns zuerst die Umgebung an: direkt um die Ecke ist das Anne-Frank-Haus. Die Vorderseite sieht sehr modern aus und ist vermutlich ein Museum, aber die hintere Wohnung, wo sich Anne Frank mit ihrer Familie vor den Nazis versteckt hat, ist originalgetreu erhalten (auch mit der Tür, die als Bücherschrank getarnt war). Aber die Besichtigung sparen wir uns, weil eine Schlange mit hunderten von Leuten vor dem Haus ansteht. Noch ein kurzer Abstecher zu McDonald's, und schon ist es Zeit für die nächste Turmführung der Westerkerk. Die Führung beginnt in der Stube, wo die Glocken geläutet werden (die Seile gehen durch den Raum und wir werden ermahnt, nicht daran zu ziehen), und hier steht auch das Bett des Glöckners (die Glöckner haben früher in zwei Schichten hier gearbeitet; die Kirche diente auch als Feuerwache für den umliegenden Bezirk, und jeder hatte zu Hause einen Eimer, mit dem er löschen konnte) und das Glockenspiel. In Betrieb ist ein automatisches Glockenspiel von 1985, aber daneben steht das alte Glockenspiel von 1658, dessen Klang auch Anne Frank in ihrem Tagebuch beschrieben hat. Weiter oben steigen wir durch das Holzgerüst, das die Glocken (u.a. die 7,5 t schwere Stundenglocke) trägt und ihre Schwingungen vom Turm entkoppelt (der würde sie nämlich nicht aushalten), und sind dann schon bald oben auf der Aussichtsplattform. Man hat hier wirklich eine gute Übersicht, aber auffällig ist vor allem die Unauffälligkeit der Stadt. Keine Hochhäuser, kaum moderne Gebäude, sondern nur Häuser im alten Stil, die sich entlang der Grachten reihen. Irgendwie sieht die Stadt auf allen Seiten gleich aus.

Anne-Frank-Haus (Menschenschlange!) und Prinsengracht, vom Turm der Westerkerk aus gesehen

Wieder unten angekommen, werfen wir noch einen Blick auf das Homomonument, einer dreieckigen Plattform, die an die Verfolgung von Homosexuellen in zweiten Weltkrieg erinnert. Ganz in der Nähe ist ein Gay-Kiosk mit einem Gay-Stadtplan... so etwas ist auch nur in Amsterdam möglich. Dazu passt auch eine andere Geschichte: nach der Turmführung habe ich mich noch ein bisschen mit der Führerin unterhalten; sie meinte, sie kenne München, sie sei im Juli dort am Christopher-Street-Day gewesen, und habe topless getanzt...

Untrennbar mit Amsterdam verbunden sind auch die Coffee Shops. Als wir bei einem vorbei kommen, gehen wir hinein und trinken dort einen Cappuccino. Dabei können wir gut beobachten, dass der Hauptumsatz hier nicht mit Kaffee gemacht wird, sondern mit diversen bewusstseinserweiternden Rauchwaren, die man dort kaufen kann. Eine eigene „Speisekarte“ gibt es dafür, mit diversen Sorten von Gras und Joints. Dann fahren wir weiter zum „Bloemenmarkt“; das sind eine Reihe von Ständen, wo so ziemlich alles verkauft wird, was man zum Wachsen bringen kann – Blumenzwiebeln in einer riesigen Auswahl, Cannabis-Homegrow-Sets, Absinth – und auch diverse Souvenirs wie Holzschuhe („Klompen“) oder ein Feuerzeug mit der Aufschrift „enjoint Amsterdam“.

Bloemenmarkt

Die Räder lassen wir gleich abgesperrt, und ziehen zu Fuß weiter; unter anderem kommen wir zu einer Einkaufspassage mit einem gläsernen Lift. Oben ist ein Café, von dem man einen schönen Blick über die Dächer von Amsterdam hat. Nach einer guten Stunde sind wir wieder zurück, um die Räder zu holen. Dabei machen wir eine erschreckende Entdeckung: wir hatten die Räder an einem Geländer abgesperrt, vor einem anderen Fahrrad (weil es keinen anderen Platz gab), und jetzt ist das andere Fahrrad weg. Der Besitzer hat es herausheben können – zugegebenermaßen war es nicht nett, ihn derart zuzuparken –, aber vorher hat er offensichtlich versucht, unser Schloss zu zerschneiden. Die Hälfte der Drahtlitzen ist durchtrennt. Raue Sitten herrschen hier.

Was sollten wir uns noch anschauen? Für das Rijksmuseum war wiedermal keine Zeit, und auch das Schifffahrtsmuseum dürfte bereits geschlossen haben. Aber wir wollen trotzdem einmal hinfahren, um die Segelschiffe anzuschauen. Unterwegs kaufen wir bei einem Supermarkt ein, und sehen dann östlich vom Hauptbahnhof ein großes Haus, das wie der Bug eines Schiffs aussieht und sich direkt über der Einfahrt des Tunnels einer Durchgangsstraße befindet. Eine lange Rampe führt nach oben, und metallisch schimmernde Fahnen flattern im Wind; wir laufen nach oben, setzen uns auf die Stufen und genießen die Abendsonne. Was das für ein Gebäude ist, haben wir nicht herausgefunden; nirgendwo stand ein Schild, aber vermutlich ist es ein modernes Museum.

Haus in Schiffsform

Abends füllt sich der ansonsten eher langweilige östliche Teil der Innenstadt mit Leben: es ist der Rotlichtbezirk. Nachdem wir in einem Restaurant etwas gegessen haben, spazieren wir durch diese Straßen. In jedem zweiten Haus stehen spärlich bekleidete Damen in den schwarzlichtbeleuchteten Schaufenstern und warten auf Kundschaft. Und damit dürften sie wenig Probleme haben, weil abends hier wirklich Menschenmassen unterwegs sind. Aber unter ihnen auch allerhand merkwürdige Gestalten: einmal bettelt uns jemand an, er brauche unbedingt Geld für die Heimfahrt, nur wenige Mark würden ihm fehlen; wir geben ihm etwas, werden aber dann das Gefühl nicht los, dass er systematisch Touristen abzockt. Ein andermal sehen wir zwei Gestalten, die ein Auto auffällig intensiv inspizieren, das kommt uns auch etwas merkwürdig vor. Und schließlich taucht jemand auf, der uns Kokain verkaufen will: „5 Gramm?... 5 Gramm Koks? Oder zwei Gramm? Hm? ....Oder vielleicht Viagra? Vielleicht?!?“.

Abendstimmung am Hauptbahnhof

Jetzt haben wir endgültig genug von dieser Stadt, in Amsterdam sind die Leute einfach eine Nummer zu verrückt für uns. Nichts wie zurück zum Campingplatz. Als wir nach einigen Kilometern bei einer Bushaltestelle auf dem Stadtplan nachschauen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, sehen uns zwei Holländer, die uns gleich fragen, wie sie uns helfen können und uns zeigen, wo wir sind (zum Glück auf dem richtigen Weg). Schon eigenartig: die Innenstadt ist fest in der Hand der Verrückten und die Umgangssprache ist Englisch, während nur wenige Kilometer außerhalb die Holländer wohnen, die sehr nett und hilfsbereit sind.

Freitag, 17. August 2001: 100 Minuten Den Haag, Rotterdam von oben

Amsterdam ist auf Dauer zu verrückt, zu undefinierbar, einfach nicht richtig gemütlich. Weiter geht's; jetzt steht der Rest der Randstad an. Hier gibt es einige sehenswerte Städte: Haarlem, Den Haag, Leiden, Delft, Rotterdam, Utrecht, Dordrecht usw., aber uns fehlt die Zeit, uns in dieser Gegend genauer umzusehen. Da lohnt sich vielleicht ein eigener Urlaub, denn das hier ist das eigentliche Holland (die Provinz heißt auch so, ein Großteil der Bevölkerung lebt hier), hier werden die berühmten Tulpen gezüchtet, und hier in der Gegend ist auch das Zentrum der Käseherstellung.

Den Haag: Skulptur

Wir machen uns erstmal auf den Weg nach Den Haag, vorbei am Flughafen Schiphol, der auf dem Grund eines leergepumpten Sees (Haarlemmermeer) angelegt wurde. Nach kurzer Zeit sind wir in Den Haag; die Autobahn endet, und die Straße führt auf Stelzen durch die Gegend und auch durch (!) einige Häuser durch, unter anderem den Bahnhof. Diese Stadt, die zwar nicht die Hauptstadt (das ist Amsterdam), aber Regierungssitz ist, hat kein richtiges Zentrum (zumindest ist aus der Karte keines zu erkennen), sondern verstreut seine zentralen Gebäude und Plätze auf eine größere Fläche. Wir parken in einer Seitenstraße unser Auto, ziehen einen Parkschein für 100 Minuten, und radeln los. Zuerst zu einem Denkmal an der Alexanderstraat, dann weiter nach Süden. Dort ist ein länglicher Platz mit Bäumen, unter deren Blätterdach eine ganze Menge Skulpturen stehen: ein Pferd aus Draht, ein Hahn, irgend etwas aus Kleiderbügeln, ein Fisch auf einem Fahrrad, ein Hase und noch viel mehr. Richtig schön hier, ruhig und schattig. Ruhig ist eigentlich die ganze Stadt, fast schon verschlafen, das komplette Gegenteil zum hektischen Amsterdam. Bei manchen Kunstwerken stellen wir unsere Bromptons dazu (was eigentlich gar nicht so schlecht aussieht) und fotografieren; als ich mein Fahrrad wieder wegnehme, sagt eine Frau, sie habe gedacht, es gehöre zur Skulptur dazu! Wir gehen weiter und kommen auf einen großen Platz mit alten Gebäuden, in der Mitte steht wieder eine Statue von einem Wilhelm, und eine Waschmittelfirma hat einen Stand aufgebaut und verteilt Waschkörbe (die man kurz danach in der ganzen Stadt sieht). Laut Stadtplan dürften die Gebäude in der Umgebung Regierungsgebäude sein. Östlich davon ist der krasse Gegensatz dazu, eine Ansammlung moderner Hochhäuser mit Glasfassade rund um den Bahnhof (und auch der Bahnhof selbst hat eine Hochhausfassade). Der Bahnhofsvorplatz ist eine große Fläche aus glatten Steinplatten, die nur von einigen Straßenbahnschienen durchquert wird – sonst nichts, keine Unterteilung, keine Absperrung... wenn eine Tram kommt, schaltet sich eine Klingel ein.

Hauptbahnhof, Straße und Straßenbahn gehen durch das Gebäde

Im Erdgeschoss des Bahnhofsgebäudes kommen die Züge an, das ganze wirkt dunkel und bunkerhaft, und darüber (im „ersten Stock“), rechtwinklig zu den Schienen, geht die Straße (über die wir in die Stadt gekommen sind) und eine weitere Tramlinie durch das Gebäude. Die Straßenbahnlinie, die den Bahnhofsvorplatz quert, verläuft parallel zum Bahnhof, und auf der anderen Straßenseite ist gegenüber dem Bahnhof ein weiteres Hochhaus. Die Straße und die andere Tramlinie, die im „ersten Stock“ durch den Bahnhof gehen, verschwinden in diesem Hochhaus ebenfalls durch eine große Öffnung, und schräg unterhalb dieser Öffnung hat das Hochhaus eine weitere, durch die man vom Bahnhof direkt in die Fußgängerzone gehen kann. Verrückt! Die ganze Fußgängerzone ist auch sehr modern, aus glatt poliertem Stein, und Gebäude mit Glasfassaden auf beiden Seiten. Irgendwo weiter hinten taucht wieder eine Straßenbahnlinie unter einem Haus durch, und am Ende der Fußgängerzone ist ein Springbrunnen aus in den Bodenplatten eingelassenen Düsen (da kann man dazwischen durchradeln!), die abwechselnd angeschaltet werden. Ja, irgendwie ist diese Stadt cool.

An einem großen Gebäude mit Seerosenteich dahinter (das &132;Binnenhof&147; heißt und das holländische Parlament beherbergt) vorbei geht es zur Grote Kerk; unterwegs essen wir noch ein Eis. Nachdem die Besichtigung der Kirche Eintritt kostet, lassen wir das (Kirchen haben wir schon genug gesehen, die alle kostenlos waren), und fahren zurück zum Auto. Die 100 Minuten Parkzeit sind eh vorbei, unsere Kurzbesichtigung damit zu Ende. Zeitlich sind wir eigentlich ganz gut dran, es ist früher Nachmittag, und wir entschließen uns, in den Vorort Scheveningen ans Meer zu fahren. Dabei kommen wir am Vredespaleis (Friedenspalast) vorbei, einem schlossartigen Gebäude, in dem das UN-Kriegsverbrechertribunal seinen Sitz hat und unter anderem über den ehemaligen jugoslawischen Ministerpräsidenten Slobodan Milosevic, einer der Hauptakteure im Bosnien-Krieg, entscheidet. Ein bedeutender Ort, aber zur Besichtigung eher uninteressant, weil man laut Reiseführer nur eine geführte Tour machen kann, die einmal am Tag stattfindet. Die nächste Sehenswürdigkeit, an der wir vorbeikommen, ist Madurodam, eine Anlage, in der viele Sehenswürdigkeiten Hollands im Maßstab 1:25 nachgebaut sind. Es wird zwar vom Reiseführer empfohlen, aber auf einem Plakat sehen wir, dass der Eintritt nicht ganz billig ist, und fahren weiter.

Scheveningen: Strand

Scheveningen ist das Gegenteil davon, was man als „malerisch“ bezeichnen würde: graue Betonblocks oberhalb der parkplatzgesäumten Strandpromenade. Aber es gibt einen schönen Sandstrand, und der Ort ist von Den Haag bequem per Straßenbahn zu erreichen. Wir parken den Pickup, gehen an den Strand und schwimmen ein bisschen. (Wassertemperatur ist ganz angenehm). Nach einer kurzen Pause machen wir uns wieder auf den Weg, Richtung Rotterdam. Eigentlich wollen wir Landstraße fahren, weil wir es nicht so eilig haben, irgendwie über Hoek van Holland (an der Landspitze nördlich der Maas-Mündung), sehen auch einen Wegweiser nach Monster (so heißt dieser Ort tatsächlich!), aber landen trotzdem wieder auf der Autobahn. Es ist gar nicht so einfach, in den Niederlanden auf kleinen Straßen zu fahren, wenn man sich nicht auskennt, denn die Wegweiser bringen einen immer wieder auf die großen Durchgangsstraßen zurück!

Schließlich kommen wir in Rotterdam an, fahren erst einmal in die Stadtmitte (weil wir davon einen Stadtplan im Reiseführer haben), und suchen uns dann einen Parkplatz. Irgendwo an der Maas hoffen wir, einen zu finden; es stehen zwar überall Parkautomaten, aber hier ist das Parken ziemlich günstig, über Nacht kostenlos, und morgen ist Wochenende, da kostet es auch nichts. Nach einem kleinen Snack ziehen wir los, an der Maas entlang, auf der Suche nach dem Oudehaven. Wir finden (am Leuvehaven) ein ehemaliges Hafenbecken mit modernen Wohnblocks auf dem Kai, weiter hinten liegt ein Feuerschiff (als Restaurant genutzt, mit gesalzenen Preisen). Ein Stück weiter hören wir Musik, anscheinend die Vorbereitung zu irgend einer Veranstaltung, denn Rotterdam ist in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt.

Rotterdam: Erasmusbrug

Sieht alles ganz nett aus, aber wir suchen etwas anderes: die Kubushäuser. Rotterdam wurde nämlich im zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört, nur wenige alte Gebäude blieben erhalten, der Rest wurde komplett neu gebaut. Heute wird diese Tatsache als Chance gesehen, und die Stadt konsequent mit moderner Architektur ausgestattet; ein Beispiel sind die beiden Maas-Brücken, und eben der Bahnhof Blaak (der auch „Flötenkessel“ genannt wird). Die Eisenbahnbrücke der Bahnlinie nach Dordrecht wurde 1995 durch einen Tunnel unter der Maas ersetzt, und ein moderner unterirdischer Bahnhof angelegt. Oberirdisch halten hier mehrere Straßenbahnlinien, in einer futuristisch aussehenden Station mit durchsichtigen, wellenförmigen Dächern über den Bahnsteigen und einem geschwungenen Dach über dem Eingang zum Untergeschoss. Direkt daneben ist der „Bleistiftturm“ (der Name sagt alles) und die Kubushäuser des Architekten Piet Blom – die Häuser sind gelbe, auf einer Ecke stehende Würfel, nebeneinander aufgereiht. Einfach genial!
Nicht weit davon entfernt ist die rote Willemsbrug, eine Hängebrücke über die Maas, die auch erst vor wenigen Jahren gebaut wurde (als Ersatz für eine Vorgängerbrücke, die ebenfalls Willemsbrug hieß). Daneben ist noch ein Pfeiler der alten Eisenbahnbrücke zu sehen, der heute als Skulptur dient, ein Drahtseil ist von ihm zur Willemsbrug gespannt und mit verschiedenen Metallteilen behängt.
Rotterdam: Blaak, Bleistifthaus Wir fahren über die Brücke, schauen von dort aus die Skyline an (mit der weißen Erasmusbrug im Westen, eine Schrägseilbrücke, Spitzname „Schwan“), und auf der anderen Seite die Reste der Eisenbahnbrücke, die dort noch stehen (warum auch nicht, es muss ja nicht immer alles abgerissen werden). Zurück in der Innenstadt fahren wir zur St. Laurens Kerk, und dann in die Fußgängerzone („Beurstraverse“); diese liegt teilweise abgesenkt, mit niedrigen Geschäften links und rechts, und wird daher „Koopgoot“ („Kaufrinne“) genannt. Wir fahren mit dem Fahrrad herunter, vor uns zufällig eine Frau mit einem schwarzen Brompton, in schöner Dreierformation, und weiter zum Rathaus, dann an einem Grünstreifen mit Wasserlauf und ein paar Skulpturen in Richtung Euromast.
Obwohl Rotterdam: Kubushäuser es hier überall perfekte Radwege gibt, sieht man vergleichsweise wenige Radfahrer. Auffällig ist in Rotterdam auch, dass es viele Farbige gibt; aber radeln tun nur die Weißen. Wenn aus einem Auto lauter Rap dröhnt und der Fahrer wie ein Henker fährt, ist es mit 95%iger Wahrscheinlichkeit ein Schwarzer... überhaupt gibt es hier eher verrückte Autofahrer, aber keine verrückten Motorradfahrer wie in anderen Städten.

Rotterdam: Abendstimmung über der Maas, Blick Richtung Europoort

Den Sonnenuntergang wollen wir uns vom Euromast anschauen. Das ist ein Turm in einem Park westlich der Innenstadt, der 1960 zur Blumenausstellung „Floriade“ angelegt wurde. Der Turm, ca. 100 m hoch, wurde in nur 23 Tagen hochgezogen, und die Aussichtsplattform (mit Restaurant, 240 t schwer!) am Boden zusammengebaut und in weiteren 5 Tagen nach oben gezogen. Weil dieser Turm eine Touristenattraktion wurde, hat man 1970 noch einmal nachgelegt und einen Stahlmast obendrauf gesetzt (Gesamthöhe jetzt 185 m), mit einem ringförmigen Aufzug, der an der Außenseite des Masts fährt. Für die Zukunft ist ein noch größerer Turm (392 m, siehe http://www.parkhavenrotterdam.nl) direkt daneben geplant. Mit dem Aufzug sind wir in wenigen Sekunden oben, und haben einen
Rotterdam: Euromast fantastischen Blick über die Stadt – auf die Erasmus-Universität, die Hochhäuser nördlich des Zentrums, auf die Maas mit ihren beiden charakteristischen Brücken Willemsbrug und Erasmusbrug, den sich endlos nach Westen erstreckenden Hafen, das Viertel Delftshaven (früher, wie der Name schon sagt, der Hafen von Delft; das einzige Viertel, das im Krieg nicht zerstört wurde) und im Norden in der Ferne den Flughafen. Ja, das hat sich wirklich gelohnt! Mit dem Außenaufzug fahren wir bis auf die Spitze des Masts hoch (die Fahrt ist aufgemacht wie ein Raumschiffstart), und bleiben danach noch auf der Aussichtsplattform, bis die Sonne untergeht (dann wird es uns zu kalt – hier oben weht nämlich dauernd ein Wind).

Samstag, 18. August 2001: Deiche und Windräder, und ein Land im Tiefschlaf

Heute müssen wir noch den Maastunnel testen, den wir gestern beim Euromast entdeckt haben. Es gibt nämlich nicht nur den Autotunnel, sondern auch einen für Radfahrer und Fußgänger – ganz ähnlich wie der alte Elbtunnel in Hamburg. Mit einer (ziemlich alten) Rolltreppe fährt man nach unten, und radelt dann unter der Maas durch, für Fußgänger gibt es anscheinend einen eigenen Tunnel darunter. Auf der anderen Seite ist nicht viel los; wir fahren ein bisschen herum, es ist eben eine typische Hafengegend, mit Gewerbegebiet, Lagerhallen usw.

Neeltje Jans

Mit dem Auto geht es weiter über die Erasmusbrug nach Süden, und dann kreuz und quer durch die Vororte zur Autobahn. Diese führt ewig lang parallel zur Maas nach Westen, am Hafen entlang. Erst jetzt verstehen wir, was es wirklich heißt, dass Rotterdam den größten Hafen der Welt hat (Schwerpunkt Container und petrochemische Produkte, einzige Zitrusversteigerung Europas, Gesamtumschlag 300 Mio. Tonnen pro Jahr) – er zieht sich von Rotterdam bis zur Mündung rund 30 km der Maas entlang! Südlich des Hafens ist nicht viel los, sollte man meinen, aber der Verkehr kommt nur zähflüssig voran; scheinbar ohne Grund, immerhin gibt es keinen Stau. Wir fahren durch die Provinz Zeeland, die durch große Wasserflächen und Inseln geprägt ist, über einige Dämme, durch ein dünn besiedeltes Land.

Neeltje Jans

Wofür die Holländer berühmt sind, ist ihr System von Kanälen, Dämmen und Poldern, mit denen sie im Laufe der Jahrhunderte ihr Land um rund ein Fünftel vergrößert haben. Und die neuesten und größten Dämme befinden sich hier, in Zeeland, mit denen Haringsvliet, Greelingen und Oosterschelde vom Meer abgetrennt wurden – um Überflutungen einzudämmen und Land zu gewinnen, aus Meerwasserarmen mit Brackwasser werden Binnenseen, teilweise mit Süßwasser. Um das natürliche Gleichgewicht nicht zu zerstören, sind manche Sperrwerke sogar so konstruiert, dass die Gezeiten zum Teil durchgelassen werden. Dieses holländische Deichbausystem hat das angeblich sehr sehenswerte Museum auf der Insel Neeltje Jans in der Mitte des Oosterscheldedamms zum Thema. Wir fahren von der Straße herunter, aber werden bereits am Parkplatz abgeschreckt: 6,50 Gulden kostet alleine das Parken, ein Spielplatz gibt dem Ganzen einen leichten Freizeitpark-Touch – nein, das sparen wir uns lieber, und parken auf der anderen Seite der Straße auf einem großen Platz, der an einem Kai endet. Direkt am Meer, kein anderes Auto weit und breit, hinter uns der Radweg (auf dem erstaunlich viele Leute fahren, obwohl das hier einigermaßen am Ende der Welt ist), und vor uns, auf einem bogenförmigen Damm, eine Reihe von Windgeneratoren. Es ist irgendwie eine seltsam bizarre, minimalistische Landschaft. Wir steigen in die Wohnkabine, machen uns ein paar Brote, und klappen die Rückwand der Kabine auf. Wow – direkt neben unserem Tisch die große Weite der Landschaft und das Meer, das ist irgendwie cool. Wir packen unsere Räder aus, und radeln zu den Windgeneratoren rüber. Auf der anderen Seite des Damms ist ein kleiner Badestrand (mit vielen Leuten); wir fahren unter den Windrädern entlang bis zum Ende, von wo aus unser Auto, das eigentlich nur gegenüber ist, schon sehr weit und klein aussieht. Ohne es begründen zu können: diese irgendwie minimalistische und bizarre Landschaft fasziniert uns.

Middelburg

Wir fahren weiter, und kommen bald nach Middelburg, der Hauptstadt der Provinz Zeeland. Wir tanken, fahren durch die Stadt durch und suchen uns etwas außerhalb einen Parkplatz. Dann geht es wieder mit den Rädern auf Erkundungstour. Bevor wir in die Innenstadt vorstoßen, bremst uns ein Bahnübergang aus, bei dem die Schranken für zwei Züge geschlossen werden; und einige Meter dahinter klappt dann die Zugbrücke auf, um eine ganze Menge von Schiffen durchzulassen, die sich schon auf beiden Seiten angesammelt hat, und auch auf Nachzügler wird noch gewartet. So stehen wir einige Minuten vor den Schranken, und während dieser Zeit bildet sich nicht nur eine kurze Autoschlange auf der Straße, sondern auch eine Traube von Radfahrern auf jeder Seite (man stelle sich das in Deutschland vor!). Von der Stadt selbst gibt es nicht viel zu erzählen; es ist eben eine nette, kleine Provinzstadt, mit Marktplatz (wo ein Flohmarkt stattfindet), Kanälen, vielen Zugbrücken (die für jedes Schiff geöffnet werden), Schiffen und einer großen Windmühle. Ganz nett.

Brüssel: Atomium

Dann geht es über die Autobahn weiter Richtung Belgien. Belgien – was hat man sich unter diesem Land vorzustellen? Ein typisches Image wie der holländische radelnde Käsemacher in Holzschuhen, der Tulpen anbaut, in der Windmühle (ohne Gardinen) wohnt, sich gelegentlich einen Joint dreht und im Urlaub mit dem Wohnwagen unterwegs ist, gibt es von Belgiern irgendwie nicht. Dieses Land hat ja nicht einmal eine eigene Sprache. Also, was ist typisch belgisch? Der Radprofi Eddie Merckx, verschiedene Comiczeichner (belgisch sind die Schlümpfe, Tim und Struppi, ...), die europäische Union (die europäische Komission hat ihren Sitz in Brüssel), oder auch die Affäre über den Serienmörder Marc Dutroux (dessen Taten möglicherweise von Behörden gedeckt wurden, worauf die massiven Pannen bei den Ermittlungen hindeuten)? Mal sehen.

Wir fahren an Antwerpen vorbei (frz. Anvers), wo wir vor allem den riesigen Hafen sehen, der sich auf vielen Kilometern entlang der Autobahn (mit Straßenlampen) hinzieht. Insgesamt scheint alles etwas heruntergekommener und dreckiger als in Holland zu sein. Bald darauf sind wir im Norden von Brüssel, wo wir das Atomium besichtigen wollen (seltsam, diese Stadt ist für nichts anderes bekannt; Amsterdam hat zwar kein richtiges Wahrzeichen, aber man hat eine Vorstellung von der Stadt: Grachten, Zugbrücken, Blumenmarkt – aber Brüssel?). Im Norden von Belgien spricht man übrigens holländisch, während man im Süden französisch spricht; Brüssel liegt ziemlich genau auf der Sprachgrenze. Welche Sprache man dort häufiger spricht, haben wir nicht beobachten können; in ganz Belgien sind die meisten Tafeln zweisprachig (groß in der dort bevorzugten und klein in der anderen Sprache), und in Brüssel sind es sogar konsequent alle Straßennamen (z.B. „Boulevard de Waterloo-laan“).

Brüssel: Blick durch Fenster des Atomiums

Wir sehen einen Wegweiser zum Atomium, und parken das Auto in einer Straße in der Nähe (wer weiß, wo es sonst Parkplätze gibt und was sie kosten), weiter geht's per Fahrrad. An einem Fußballstadion vorbei geht es zum Eingang des Messegeländes; alles wirkt verlassen, nirgendwo ist jemand, und wir hätten auch mit dem Auto bis in das Messegelände hineinfahren können, freie Flächen zum Parken gibt es genug. Links und rechts sind ein paar Messehallen, rechts dann ein Gebäude mit Grünanlage und Brunnen, und links in seiner Verlängerung am Ende einer breiten, leicht abfallenden Straße steht das Atomium in seiner ganzen Schönheit. Es macht schon etwas her, diese Metallkonstruktion aus neun Kugeln mit jeweils 18 m Durchmesser und einer Gesamthöhe von 102 m, die anlässlich der Expo 1958 erbaut wurde, zu einer Zeit, als die zivile Nutzung der Kernenergie boomte, technische Schwierigkeiten und Gefahren noch weitgehend unbekannt waren, Politiker von Atomautos spätestens zum Jahrtausendwechsel träumten – diesen Glauben an die Zukunft der Kernenergie symbolisiert das Atomium. Tja, so eine Weltausstellung hinterlässt ihre Spuren: Paris bescherte sie den Eiffelturm (als Symbol der damals aufkommenden modernen Stahlkonstruktion, im Unterschied zur Steinbauweise), Brüssel das Atomium – was hat Hannover? Einen überdimensionalen Postbriefkasten, die Preussag-Arena und vermutlich noch weitere Sponsoring-Projekte (keine Ahnung, was noch steht und was wieder abgebaut wurde)... was uns das wohl sagen will? Vielleicht hätte das Motto „Mensch – Natur – Technik“ eher heißen sollen „Globalisierung – Multimediagrößenwahn – Werbefinanzierung“? Mal sehen, wie man das in ein paar Jahrzehnten beurteilen wird...

Brüssel: im Inneren des Atomiums

Im Atomium ist in der untersten Kugel die Kasse und der Eingang; man fährt dann zuerst mit dem Lift (hat ein gläsernes Dach, so dass man im Aufzugsschacht nach oben schauen kann) in die oberste Kugel, von wo man eine schöne Aussicht über das Gelände hat. Oder besser gesagt: hätte, denn die Scheiben sind sehr dreckig. Es steht zwar ein Schild dabei, dass man die Scheiben nicht verschmutzen soll, weil es ein großer Aufwand sei, sie zu reinigen – aber geputzt wurden sie wohl seit Jahren nicht mehr. Mehr ist hier oben nicht geboten (außer eine Vitrine mit ein paar Souvenirs, die niemand haben will), mit dem Lift geht es wieder runter, und dann per Treppe in den ersten Stock der untersten Kugel. Hier gibt es keine Fenster, und in dem etwas schummrig beleuchteten Raum stehen nur Stellwände mit Dingen, die irgendwie entfernt etwas mit dem Atomium zu tun haben, wie z.B. Zeichnungen aus Tim-und Struppi-Comics. Über eine Rolltreppe geht es in eine der drei Kugeln oberhalb der untersten, wo auch nur undefinierbares Zeug herumsteht. Die Innenwände der Kugeln sind übrigens mit Alu-Folie verkleidet (was vermutlich damals, zu einer Zeit der technischen Aufbruchstimmung, in der die ersten Weltraumflüge stattfanden, an ein supermodernes Raumschiff oder ähnliches erinnern sollte), die an einigen Stellen schon Löcher hat, der Fußboden ist ein grauer Teppichboden mit Atomium-Aufdruck... vermutlich unverändert seit Jahrzehnten, es macht alles einen
Brüssel: Blick aus dem Atomium (dreckige Scheiben) etwas verstaubten Eindruck. So in der Art habe ich auch das Luftkissenboot, mit dem ich vor ein paar Jahren über den Ärmelkanal gefahren bin, in Erinnerung: Fenster dreckig, alles nicht mehr ganz taufrisch, innen lagen Zeitschriften, in denen die Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit dieser Meisterwerke britischer Ingenieurkunst gelobt wurden – aber wenig später wurde der Luftkissen-Fährbetrieb eingestellt. Die Fenster sind hier ebenfalls dreckig, genauso wie in der mittleren Kugel, die man über eine Rolltreppe erreicht. Die Rolltreppe ist laut einem Schild daneben noch das Originalmodell von 1958, und daher außer Betrieb. Ist vielleicht auch besser so. Von der mittleren Kugel geht es über eine Treppe wieder nach unten, in eine andere Kugel auf der zweiten Ebene (die praktisch leer ist, nur ein paar Plastikstühle stehen darin), und von dort aus wieder nach unten zum Ausgang. In keiner der fünf Kugeln, die man besichtigen kann, ist etwas wirklich Interessantes, sie sind schummrig beleuchtet und riechen muffig, und der Zugang zu den restlichen Kugeln ist gesperrt. So faszinierend, wie dieses silbrig schimmernde Gebäude von außen aussieht (9 Kugeln in 5 Ebenen, in Form eines auf einer Ecke stehenden Würfels; die Kugeln sitzen auf den Ecken des Würfels und eine in der Mitte), so enttäuschend und heruntergekommen ist es von innen – vor allem deshalb, weil es das Wahrzeichen von Brüssel und eigentlich von ganz Belgien ist.

Brüssel: Gebäude auf dem Marktplatz

Wir fahren weiter in die Innenstadt, was ein bisschen ein Blindflug ist, weil der Stadtplan im Autoatlas nur den inneren Bereich der Stadt abdeckt, und man auf der Straßenkarte zu wenige Details erkennen kann. Schließlich landen wir am Kanaal van Charleroi, am Innenstadtring, stellen dort den Pickup ab und machen uns etwas zu essen. Nach dem Essen steht der Nachtausflug in die Stadt an, wir radeln am nördlichen Innenstadtring entlang (und vermissen die holländischen Radwege... hier gibt es zwar stellenweise einen Radweg, der aber eher deutsch ist: immer wieder endet er auf der Straße, wo man fast umgefahren wird), und biegen dann nach rechts ab. An einer Metrostation sehen wir, dass wir an der Börse sind (ein klassizistisches Gebäude mit Säulenfassade), fahren durch eine Seitenstraße, und sind auf dem Grote Markt (Marktplatz). Wow! Es soll einer der schönsten Plätze Europas sein, und da ist was dran. Das Rathaus und die anderen Gebäude sehen einfach wunderschön aus, mit ihrem verspielten Zuckerbäckerstil. Kann man nicht beschreiben – nur anschauen und bewundern. In der ganzen Innenstadt ist eine ganze Menge Leute unterwegs (im Gegensatz zu den Außenbezirken, die alle etwas tot wirken), so auch hier. Wir stellen unsere Räder ab, und schauen uns etwas um. Währenddessen bleiben immer wieder Leute staunend vor unseren Rädern stehen, und auch vor der Gruppe blau verkleideter Leute, die wie Ärzte aussehen...

Wofür Brüssel auch noch bekannt ist, ist das Manneken Pis, irgendein Brunnen, auf dem eine Figur steht und pinkelt. Wenn wir schon einmal hier sind, sollten wir das wohl auch gesehen haben; wir folgen den kleinen Wegweisern (denn es liegt ziemlich versteckt) und landen an einer Hausecke mit einem kleinen Brunnen. Hinter einem Gitter steht eine kleine Metallfigur, ein Junge, der hinunterpinkelt; seltsamerweise hat man ihm ein Stoffkleid angezogen (was das wohl soll?). Nein, sehenswert ist das Ding nicht. Wer es trotzdem anschauen will: GPS auf 50,8449°N/4,3499°E stellen. Inzwischen ist es dunkel geworden; wir fahren weiter Richtung Osten, weil wir u.a. den Königspalast sehen wollen, dabei beginnt es zu regnen (aber es hört zum Glück bald wieder auf). Mangels Stadtplan finden wir den Palast nicht (wir sind zu weit nördlich; das sehen wir bei der nächsten Metro-Station, denn bei jeder Metrostation ist ein Stadtplan), und fahren weiter auf der Ringstraße bzw. auf den extrabreiten Bürgersteigen. Hier ist einiges los, Menschenmassen sind unterwegs, Restaurants haben ihre Tische draußen – das ist erstaunlich, weil tagsüber die Stadt oder eigentlich ganz Belgien wie im Tiefschlaf wirkt.

Brüssel: Rathaus, nachts angestrahlt

Wir fahren weiter, bis wir zu einigen klassizistischen Gebäuden kommen. Dort in der Nähe sind auch die Museen; sie liegen etwas oberhalb des Stadtzentrums, und von hier aus hat man einen wunderschönen Blick auf die Innenstadt mit ihren beleuchteten Gebäuden; besonders faszinierend ist der Rathausturm, der in wechselnden Farben beleuchtet wird und schon fast kitschig wirkt. Unterhalb der Museen ist ein Park (alles schön beleuchtet), wo wir uns auch noch eine Weile aufhalten, bevor wir wieder nach unten in das Zentrum und weiter zum Auto (auf der anderen Seite des Zentrums) fahren.

Sonntag, 19. August 2001: Groß und dreckig vs. klein und fein

Brüssel: verkommene Häuser

Bevor die Heimreise weitergeht, wollen wir uns noch einmal Brüssel anschauen. Wir fahren wieder nach Osten in das Zentrum, dort den Berg nach oben (Brüssel ist erstaunlich bergig – d.h. flache, aber große Hügel, das sind wir von Holland gar nicht mehr gewöhnt), und dann vorbei am Königspalast und Parlamentsgebäude. Auch wieder etwas enttäuschend, weil Palast und Parlament beide ziemlich trist und grau wirken, und auch der Park dazwischen ist zur Hälfte eine Baustelle. Hier im Osten der Innenstadt muss auch irgendwo das Europaviertel sein, mit dem Sitz der europäischen Kommission und den Büros der tausenden von „Eurokraten“, von hier wird zum Großteil die Politik der EU gemacht (das Europaparlament hat vergleichsweise wenig zu sagen). Wir folgen den Wegweisern, die uns wieder bergab weiter stadtauswärts führen, dann fahren wir den nächsten Berg hoch, und die Wegweiser sind verschwunden. Hier oben gibt es einen großen Torbogen, auch eine Metrostation mit Stadtplan, aber die Lage des Europaviertels ist nicht auszumachen. Wir drehen um, fahren wieder Richtung Innenstadt, und dann nach Norden – ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir es einfach übersehen haben. Hier fällt uns ein stattliches Haus auf, das aber
Brüssel: Michaelskirche zerbrochene Scheiben und zugenagelte Türen hat und schon ziemlich heruntergekommen ist; krass, und das mitten in der Stadt. Auf der gegenüberliegenden Seite hat man einen schönen Blick auf das Atomium in der Ferne, aber weit und breit kein Euro-Viertel. Die Wegweiser dorthin zeigen nach Süden, also fahren wir hinterher. Dann stehen wir endlich vor dem Gebäude der europäischen Kommission, das man aus den Nachrichten kennt (es war wohl von anderen Hochhäusern verdeckt, als wir vorbeigefahren sind). Es wird gerade renoviert und bekommt eine neue Fassadenverkleidung – und das lässt es noch mehr von den umliegenden Wohnhäusern herausstechen, die alle ziemlich dreckig und heruntergekommen sind, und in den Straßen liegt ein leichter Gestank. Es gibt kein protziges und exklusives Euro-Viertel, wie wir es erwartet haben, sondern nur ein paar Betonklötze aus den 70er Jahren, inmitten des verschlafenen und dreckigen Brüssel. Und auch auf dem Rückweg zum Auto bestätigt sich dieses Bild: wir kommen an einigen schönen Gebäuden vorbei, die nur ein bisschen vergilbt sind, an ordentlichen Hauptstraßen, aber auch durch kleine, stinkende Gassen, an dreckigen Häusern mit Müllsäcken davor, und in der ganzen Stadt gibt es praktisch keine Leuchtschrift oder Display, das nicht defekt ist. Ein weiteres Beispiel ist die Treppe, die in der Nähe unseres Parkplatzes zum Kanal hinunterführt: hier stapelt sich auch der Müll, und es stinkt fürchterlich.

Luxemburg

Wir machen uns mit dem Auto auf den Weg zur Autobahn; auf dem südlichen Innenstadtring stehen wir im Stau, weil Volksfest ist (wie in Holland!) und ein Teil der Fahrbahnen von Achterbahn, Karussell, Riesenrad u.ä. belegt ist. Auf der Autobahn geht es durch eine hügelige Gegend, die dann sehr waldreich und bergig wird, als sie in die Ardennen übergeht. Spätestens ab Brüssel könnte die Landschaft genauso irgendwo in Bayern liegen, das flache und grasbedeckte Holland liegt hinter uns. Am Nachmittag erreichen wir dann Luxemburg, wir fahren von der Autobahn ab und parken das Auto in einem Wohngebiet. Mit dem Fahrrad geht es weiter, und weil die Stadt Luxemburg ziemlich klein ist, sind wir schnell im Zentrum – in einer Fußgängerzone, die sich dann zu einem Platz erweitert. In der Mitte ist eine Bühne, auf der eine Jazzkapelle spielt, viele Leute sind unterwegs, eine lebendige Stadt. Rund um den Platz stehen Händler, die Bilder, Figuren aus gebogenem Draht und Ähnliches verkaufen. Wir stellen unsere Räder ab, und laufen zu Fuß weiter; überall stehen bemalte Kühe herum, die zu einer Ausstellung namens „Art on Cows“ gehören. Nach eine Runde um die Fußgängerzone fahren wir weiter zu dem großen Tal, das die Stadt durchschneidet, und fahren über eine der Brücken auf die andere Seite. Dort drehen wir am Hauptbahnhof um, und fahren über eine andere Brücke wieder zurück. Ja, Luxemburg ist wirklich nicht groß, und hat auch keine besonderen Sehenswürdigkeiten. Aber es ist eine hübsche Stadt.

Luxemburg

Zurück am Auto machen wir uns einen Cappuccino, und dann geht es weiter, auf einer kleinen Landstraße durch eine hügelige Gegend mit kleinen Ortschaften, wir verlassen Luxemburg und überqueren die Mosel. Durch das Saarland geht es weiter, ins Saartal, und dort auf die Autobahn. Wir umfahren Saarbrücken im Norden, und sind jetzt schon wieder auf der Suche nach einer Tankstelle. Seltsam, auf den doch etwa hundert Kilometern seit der Grenze gibt es kein Rasthaus an der Autobahn! Bei Zweibrücken fahren wir herunter, und suchen eine Tankstelle, und finden ein selten dämliches Exemplar: es gibt zwar jede Menge Zapfsäulen, aber nur eine geöffnete Drive-In-Kasse, vor der sich der Verkehr staut; und bevor der Vordermann nicht bezahlt hat, kann man nicht anfangen zu tanken. Bei Pirmasens endet die Autobahn, die letzten Sonnenstrahlen verabschieden sich, und wir erreichen auf der B427 den Pfälzer Wald, eine sehr waldreiche Gegend (sieht man gut auf Satellitenbildern). Es gibt kaum Ortschaften (Bad Bergzabern ist der einzige größere Ort), die Straße schlängelt sich endlos dahin, und das ist gar nicht so übel, denn mit dem Pickup mit Wohnkabine kann man eh nicht schneller fahren, wir kommen gut vorwärts, und erreichen bei Karlsruhe wieder die Autobahn. Nachts ist kaum Verkehr, und so fahren wir weiter bis Pforzheim, wo wir uns auf einem Parkplatz etwas zu essen kochen, und dann noch bis Ulm-Leipheim, wo wir dann übernachten.

Montag, 20. August 2001: Das bayerische Wetter

die Wohnkabine ist abmontiert, der Urlaub zu Ende

Als wir aufwachen, schüttet es kräftig. Wir machen uns auf den Weg, der Regen begleitet uns bis ein Stück vor München; ab dann ist es durchwachsen. Es bleibt zwar für den Rest des Tages noch trocken, so dass wir nach der Ankunft zu Hause (11 Uhr) noch problemlos die Wohnkabine abbauen und reinigen können, aber bereits am nächsten Tag hat das Regenwetter uns auch zu Hause eingeholt. Das bayerische Wetter hat uns wieder, schade. Uns bleibt nur noch festzustellen: es war ein wirklich genialer Urlaub. Kurz und anstrengend, aber wir haben sehr viel gesehen und erlebt, so viel, wie manch Anderer in mehreren Wochen nicht. Diese Tour haben wir sicher nicht bereut.

Holländische Besonderheiten