von Christoph Moder
Um sechs Uhr klingelt mein Wecker; schnell dusche ich mich, packe mein Zeug zusammen (es muss doch der große
Rucksack sein, wegen Zelt, Schlafsack und Isomatte) und mache mich auf den Weg zum Münchner Hauptbahnhof –
auf meinem Brompton-Faltrad, mit dem großen Rucksack am Rücken und einen kleinen Rucksack, der am Sattel
hängt. Ich habe nicht viel Zeit, so muss ich mich etwas beeilen, und komme etwas verschwitzt am Bahnhof an.
Schon jetzt ist es ziemlich warm. Ein kurzer Schock war, dass sich mein kleiner Rucksack unterwegs geöffnet hat;
aber es scheint nichts herausgefallen zu sein. Für einen Geldautomat war leider keine Zeit mehr, zum Glück
habe ich mein Ticket bereits vor ein paar Tagen per Internet gekauft und ausgedruckt. Und wo ist mein Sitzplatz? Ganz
vorne, und der Zug ist lang. Endlich sitze ich an meinem Platz. Und dank der Klimaanlage ist es hier angenehm
kühl.
Pünktlich um 7:26 verlässt der ICE den Münchner Hauptbahnhof. Ich bin schon Ewigkeiten nicht mehr
ICE gefahren, mit einem neuen ICE-3 glaube ich noch nie. Weil das Bahnfahren normalerweise einfach zu teuer ist,
zumindest im Fernverkehr ohne Bahncard und ohne einen Monat im Voraus zu buchen. Der Zug fährt an wie eine
S-Bahn, er beschleunigt ähnlich stark und die Elektronik macht ein ähnliches (aber doch angenehmeres)
Geräusch. Als ich dann das Gefühl habe, wir rollen so „im Leerlauf“ dahin, zeigt das Display bereits 130
km/h – das hätte ich jetzt nicht gedacht. Bis Augsburg geht es gemütlich durch das relativ
flache Land dahin, vor dem Bahnhof müssen wir ein paar Minuten warten; hinter Augsburg wird die Landschaft
hügeliger, dann kommen irgendwann die Kühltürme von Gundremmingen in Sicht; während ich
frühstücke – ich hatte mir die Reste des gestrigen Nudelsalats
eingepackt – fahren wir am Wasser der Donau-Auen entlang, durch den Bahnhof von Günzburg, und
erreichen Ulm. Direkt hinter dem Hauptbahnhof steigt die Bahnstrecke langsam an, der Zug erklimmt die
Schwäbische Alb, und ich werde müde.
Als ich wieder aufwache, schaukelt der Zug durch das Neckartal. Plochingen, Esslingen, zwischen Weinbergen
entlang; dann queren wir den Neckar, Tunnel, und wir sind im Stuttgarter Hauptbahnhof. Rund zwei Stunden bin ich
jetzt unterwegs; das ist verglichen mit dem Auto nicht wirklich schlecht und gleichzeitig in diesem komfortablen Zug
sowas von entspannend und bequem ... in einem Regionalzug würde mein Urteil allerdings anders lauten.
Rückwärts geht es wieder hinaus aus dem Kopfbahnhof, ich bin jetzt am hinteren Zugende, der Stuttgarter
Fernsehturm auf dem Hohen Bopser (der erste Stahlbetonfernsehturm der Welt) verschwindet in der Ferne, und bei
Zuffenhausen taucht der Zug ab in einen Tunnel. Hier dreht er zum ersten Mal auf 250 km/h auf.
Nach ein paar Tunneln befinden wir uns hoch über der hügeligen Landschaft des Kraichgaus; es bleibt aber keine Zeit zum Schauen,
sondern bald verschwinden wir im nächsten Tunnel, hinter dem wir uns gleich im Rheintal befinden. Schon vor drei
Jahren, als ich zum ersten Mal auf dieser Strecke gefahren bin, war ich fasziniert davon, wie schnell man aus dem
Neckartal zum Rhein kommt. Vorbei an den Kühltürmen von Philippsburg erreichen wir Mannheim mit seinen
Industrieanlagen; nach dem Hauptbahnhof geht es vorbei am Hafen, durch Waldheim (vom Namen her bekannt vom ehemals
erfolgreichen Fußballverein) und weiter durch das flache Rheintal nach Norden. Hinter den Kühltürmen
von Biblis wird das Grasland dann irgendwann abgelöst von einem Kiefernwald, das Bahnhofsschild sagt
„Zeppelinfeld“, und wir erreichen den Frankfurter Flughafenbahnhof von Osten.
Hier gibt es für einige Minuten ein Rendezvous mehrerer ICEs; an einem anderen Gleis steht ein ICE der
Nederlandse Spoorwegen nach Amsterdam. Mein Zug – aber meine
Reservierung gilt erst ab Duisburg. Nach kurzem Aufenthalt geht es auf die Neubaustrecke nach Köln; ich
würde gerne hinten durch den Führerstand nach draußen schauen, aber ein Schaffner hat die
Glastür des Erste-Klasse-Abteils, welches sich direkt hinter dem Führerstand befindet, mit einem Vorhang
zugehängt – bis Köln, wie er sagt. So ein Spielverderber! Allerdings habe ich für meine Fahrt
auch bei weitem nicht so viel bezahlt wie ein Erste-Klasse-Reisender, d.h. damit muss ich leben. Über eine
langgezogene Rechtskurve quert der Zug den Main, wir befinden uns bereits auf der „festen Fahrbahn“, und
durch einen Tunnel geht es den Taunus hinauf, während der Zug kontinuierlich beschleunigt.
Bald hat er 300 km/h drauf und hält diese Geschwindigkeit – lediglich an einigen Steigungen bricht das Tempo um
zehn bis zwanzig Stundenkilometer ein.
Während sich die Schnellfahrstrecke trotz des hohen Tempos und der vielen
Kurven und Steigungen erstaunlich unspektakulär anfühlt (der Zug fährt absolut ruhig, kein Vergleich
zum Geruckel einer S-Bahn bei einem Bruchteil dieser Geschwindigkeit), ist es doch nicht so einfach, durch den Zug zu
laufen – man muss breitbeinig gehen wie in einem schwankenden Schiff. Wie vom Wetterbericht vorhergesagt nimmt
die Bewölkung nach Norden hin zu; neben den Cirrus-Wolken gibt es auch Wolkenfetzen in einer tieferen Schicht,
und vom Zug aus gesehen bewegen sich beide Wolkenschichten gegeneinander mit einer deutlich sichtbaren
Geschwindigkeit. So etwas kannte ich bisher nur aus dem Flugzeug.
Bei Siegburg verlassen wir die Neubaustrecke und fahren mit gemäßigter Geschwindigkeit bis Köln Hauptbahnhof. Dort wendet der Zug nochmals, und wir verlassen zeitgleich mit einem anderen ICE den Bahnhof. Fast absolut parallel fahren die Züge ein ganzes Stück nebeneinander her, einmal 20 Meter voneinander entfernt, dann nähern sie sich wieder bis auf einen knappen Meter an. Hinter Köln-Mülheim zweigt der andere ICE schließlich ab, und über Düsseldorf erreichen wir Duisburg, wo ich umsteigen muss.
Der andere ICE, den ich bereits in Frankfurt gesehen habe, trifft nach wenigen Minuten ein; hinter Oberhausen
verlassen wir das Ruhrgebiet und fahren eine Weile später durch den Bahnhof von Emmerich. Plötzlich hat die
Oberleitung zwei Drähte und die Lokomotiven sind alle gelb – der Zug ist bei vollem Tempo vom deutschen
zum niederländischen Stromsystem gewechselt. In der Ferne sehe ich die Pylonen der Rheinbrücke, das Land
ist absolut flach und grün, vereinzelte Baumgruppen stehen wie Skulpturen in der Landschaft, der Himmel ist
jetzt vollständig bewölkt, und die Sicht wird dunstig. Holland wie ich es kenne.
Bald darauf erreichen wir Arnhem, wo ich aussteige; es ist kurz nach zwei. Erst einmal wird der große
Rucksack in einem Schließfach verstaut, dann kaufe ich eine Fahrkarte für die Weiterfahrt (nachdem der
Automat keine Geldscheine mag, muss ich zum Schalter gehen, wo die Leute vor mir wieder mal ewig brauchen), und radle
in die Stadt. Der Bahnhof ist leicht zu erkennen an den beiden hässlichen großen Gebäuden, die direkt
daneben stehen; ansonsten fallen mir gleich die komfortablen Radwege auf, die in alle Richtungen gehen. Sogar bis
nach Maastricht ist ein Radweg ausgeschildert.
Die Innenstadt von Arnhem ist unspektakulär. Erinnert mich irgendwie an Enschede. Es gibt eine recht belebte
und gemütliche Fußgängerzone, aber die Gebäude sind nicht so sensationell – wenig Altes,
und das Moderne ist eher hässlich. Wie ich später erfahre, wurde im Zweiten Weltkrieg hier viel
zerstört, nicht viel mehr als die Kirche dürfte sich gehalten haben. Was es hier laut Reiseführer auch
zu sehen gibt, ist das Kröller-Müller-Museum, das irgendwo im Norden Richtung Apeldoorn ist. Ich habe im
Internet keine Karte gefunden, auf der zu sehen ist, wie man zu diesem Museum kommt; auch auf der Webseite des
Museums ist nur eine Beschreibung, wie man mit dem Bus von Apeldoorn dorthin kommt.
Grob geschätzt müsste es aber auch mit dem Fahrrad machbar sein. Auf einem Stadtplan in der Fußgängerzone finde ich eine
Straße namens Apeldoornseweg; das ist gut, die geht nach Norden, die
nehme ich. Direkt hinter der Stadt beginnt eine Steigung, die nicht mehr aufhören will – Moment mal, Berge
waren in meinem Holland-Weltbild eigentlich nicht vorgesehen. Hier werde ich eines Besseren belehrt. Eigentlich
hätte mir schon was auffallen sollen beim Namen des Naturparks, in dem das Museum liegt: de Hoge Veluwe.
Der Radweg ist königlich breit und führt parallel zu einer
Autobahn. Inzwischen ist es nicht nur dunstig, sondern schon richtig stickig; obwohl es dank der Wolkendecke nicht
heiß ist, schwitze ich ohne Ende. Irgendwann leitet mich ein Wegweiser nach links zum Museum; es geht über
die Autobahn und dann entlang einer einsamen Straße durch einen Kiefernwald; der Boden ist sehr sandig, auf den
Freiflächen findet sich Heidekraut, aber unter den Bäumen scheint es feucht genug zu sein, dass sich dicke
Kissen von Moos halten können (kein Wunder, wenn es hier öfter so dunstig ist). So hat man einen schwarzen
Radweg, gesäumt von grünen Mooskissen und an den Rändern bedeckt von hellbraunen Kiefernnadeln.
Nach einer Weile komme ich zu einer Kreuzung mit einem Pannekoekenhuis.
Nicht weit dahinter ist der Eingang zum Nationalpark; ich bin beim südlichen Eingang gelandet. Hier zahlt man
den Eintritt für den Park und auch das Museum; dieses liegt allerdings weitere 10 km entfernt im Park.
Weiße Fahrräder stehen kostenlos zur Verfügung, aber ich habe ja mein eigenes Gerät am Start.
Weil ich – typisch deutsch – dem Radweg nicht traue, folge ich der Straße, die mich mal durch
eine offene Heidelandschaft und mal durch einen Wald mit Birken und Kiefern führt.
Schließlich bin ich beim Museum – ein flaches Bungalow-Gebäude mit großen Glasflächen, umgeben von Bäumen und
Rasenflächen, die wie ein Teppich die Flügel des Gebäudes und die Skulpturen im Freigelände
umgeben. Deren abstrakte Formen – Würfel aus poliertem Stein, metallene T-Träger, glänzende
Metallrohre – kontrastieren gut mit den weichen Formen des Rasens, den Bäumen, dem laubbedeckten Waldboden
und dem auch schon leicht bemoosten Waschbetonweg. Über ein paar Stufen geht es zu einem weit überkragenden
Vordach, unter dem sich der Eingang befindet. In den Gängen reichen die Fenster vom Boden bis zur Decke und
lassen den Innenraum mit den Skulpturen mit der Außenwelt verschmelzen.
Die Ausstellungsräume mit den Bildern sind dagegen fensterlos und haben nur diffuses Licht von oben; hier finden sich viele berühmte Werke der
modernen Malerei, angefangen von den Impressionisten (deren Pinselstrich „in echt“ viel interessanter ist
als im Kustbuch abgedruckt) über Expressionisten wie Vincent van Gogh (dessen Bilder ebenfalls viel stärker
wirken, wenn man nicht nur die Farben sieht, sondern auch die Pinselstruktur) bis hin zu vollkommen abstrakten
Künstlern wie Piet Mondrian – auch dessen Bilder sind gar nicht so steril-exakt gezeichnet, wie man sie aus
den Büchern kennt, sondern man sieht deutlich kleine Ungenauigkeiten, die zeigen, dass er kein Computergrafiker,
sondern ein Maler war. Mich beeindruckt diese Sammlung von großen Meistern. In der Cafeteria kaufe ich mir eine
Kleinigkeit; eigentlich gäbe es draußen noch einen Skulpturengarten im Wald, allerdings macht das Museum
jetzt bald zu – schade. Und ich muss ja auch weiter, der Weg nach Arnhem braucht seine Zeit.
Auf dem Rückweg nehme ich den Radweg statt der Straße. Dieser ist natürlich in perfektem Zustand, führt
zunächst durch den Wald und dann durch die offene Heide. Inzwischen ist es noch dunstiger geworden, Wolken von
Insekten fliegen tief über dem Boden, so dass ich nur noch mit gesenktem Kopf fahre, während wie in einem
Hagelschauer die Fliegen auf meinen Körper prasseln. Minutenlang. So krass habe ich das noch nie erlebt. Nach
der Heide komme ich in eine Sandwüste (!), bis auf einige wenige trockene Bäume wächst hier absolut
gar nichts. Der Radweg ist hier schnurgerade und folgt nur dem Auf und Ab der welligen Landschaft, links und rechts
sind Dünen. Kurz darauf geht
es wieder durch den Wald in einer Allee; hier ist es so feucht, dass sich schon fast Nebel bildet, und ich gehe fast
ein vor schwitzen.
Außerhalb des Parks hoffe ich, dass es endlich bergab geht; aber der Ort Schaarsberg
trägt seinen Namen auch nicht umsonst, es geht weiter hügelig dahin, über einen endlosen mit Klinker gepflasterten
Radweg (wer macht sich eigentlich diese Mühe?). Dann treffe ich auf die Schnellstraße nach Utrecht,
entlang der man wieder zurück nach Arnhem kommt; an der Kreuzung gibt es sogar Induktionsschleifen für die
Ampel am Radweg
– in den Niederlanden nicht so ungewöhnlich, aber in Deutschland absolut undenkbarer Luxus. Zurück in
Arnhem ziehe ich mir erstmal eine große Cola beim Burger King; das waren jetzt immerhin rund 50 km mit dem
Fahrrad unter erschwerten Bedingungen. Dann drehe ich noch eine Runde durch die Stadt, komme zu der Erkenntnis, dass
man sich hier nicht länger aufhalten muss, und begebe mich in den doppelstöckigen Schnellzug Richtung
Eindhoven.
Als ich in ’s-Hertogenbosch umsteige, kommt gerade ein heftiger Schauer herunter. Zum Glück ist der Bahnsteig
überdacht. Auf den Anschlusszug muss ich eine Weile warten; zwar fahren die meisten Züge aus Arnhem
Richtung Eindhoven, allerdings muss ich nach Boxtel, und dort hält nur ein Stoptrein. Als dieser kommt, helfe ich zwei Radlern mit viel Gepäck beim
Einsteigen. Sie steigen ebenfalls in Boxtel aus, zusammen mit ein paar anderen Leuten. Auf dem Bahnsteig fragen sie:
„Are you hackers?“ So sind wir schon zu sechst. Die beiden Radfahrer kommen aus Hilversum, und die drei anderen Jungs
aus den USA – zwei aus New York, der andere aus Philadelphia. Wo müssen wir jetzt hin? Auf der
Bahnhofsüberführung kommt uns eine Gruppe von Leuten entgegen, die ich anhand der T-Shirts gleich als
Hacker identifiziere; sie sagen, dass der Shuttlebus auf der Westseite der Gleise fährt.
Ich schließe mich jedoch den Holländern an, die mit dem Fahrrad fahren wollen. Sie haben zwar ebenfalls keine Ahnung, wo das
Camp-Gelände eigentlich liegt, aber mit einem PDA mit Navigationssystem finden wir zumindest die richtige
Richtung, und dann folgen wir den Autos, die anhand von Aufklebern eindeutig als Camp-Besucher zu identifizieren
sind. T-Shirts und Autos – so orientiert sich der moderne Pfadfinder. Das Camp „WhatTheHack“ ist
schließlich sogar durch ein richtiges Verkehrsschild ausgeschildert; eine Allee führt zum Gelände
hin, wir unterqueren die Bahn, und sind da. Gerade bricht die Abendsonne aus den Wolken hervor und taucht die
dampfende Landschaft in ein warmes Licht. Jetzt muss man sich nur noch anmelden, und darf sich dann auf dem
Gelände niederlassen. Als Reaktion auf Probleme mit den Sicherheitsbehörden im Vorfeld haben die
Veranstalter im Anmeldezelt als Parodie einen Do-It-Yourself-Sicherheits-Check installiert – nach dem
Motto: „Wenn Sie sich unsicher fühlen, können Sie sich hier mit Metalldetektor etc. untersuchen und selbst
abtasten; Sie wissen schließlich selbst am besten, wo Sie suchen müssen. Und wenn Sie nicht wissen, wonach
Sie suchen müssen, haben Sie es mit großer Sicherheit auch nicht dabei.“
Ich werde von der Sonne geweckt, die auf mein Zelt scheint; die dort haftenden Regentropfen machen ein Punktmuster
auf das Außenzelt. Kaum bin ich wach, wird es schon unerträglich warm im Zelt; nichts wie raus, und bald
ist es schon Zeit für die Eröffnungsveranstaltung. Ansonsten gibt es nicht viel zu sagen; es ist brutal
heiß, ich bin auf Standby-Betrieb, laufe auf dem Gelände herum (Vorträge sind wegen der stickigen
Hitze in den Zelten einfach nicht drin), und radle dann irgendwann nach Boxtel, um mich im Supermarkt mit Essen und
vor allem kühlem Getränk einzudecken. Ich bin nicht der Einzige mit dieser Idee; im Supermarkt treffe ich
Sphaera, die ich vom Easterhegg letztes Jahr in München kenne. Ich kaufe mir dann noch eine Packung
Müsli als „Grundnahrungsmittel“, so dass ich mir nicht andauernd was auf dem Camp kaufen muss; außerdem hält das auch im Zelt
ohne Kühlung. Abends verfärbt sich der Himmel dann richtig gelb, und die untergehende Sonne macht die
Schwüle etwas erträglicher.
Nachts beginnt es zu regnen; ich bin ziemlich müde und freue mich, in meinem gemütlichen Zelt zu liegen. Das Fahrrad draußen wird es schon überleben, den Rucksack habe ich gut in Rettungsdecke verpackt (in dem winzigen Zelt wäre für ihn kein Platz), also gute Nacht.
Vormittags ist eh nichts los, und so nehme ich mein Rad und mache mich auf den Weg, um Eindhoven kennen zu lernen.
Zuerst geht es über eine lange breite Allee neben der Autobahn dahin, dann komme ich in den Ort Best, wo man um einige Ecken durch die Wohngebiete gelotst wird, und dann
verläuft der Radweg neben einer großen Einfallstraße. Wegen dem nahen Militärflughafen fliegen
auch immer wieder Flugzeuge über mich hinweg. Als ich die Stadtgrenze von Eindhoven erreiche, beginnt es zu
regnen. Bin ich immer noch richtig? Ich fahre einfach mal weiter und hoffe, dass es nicht so schlimm wird. Aber dann,
als ich schon halbwegs durchnässt bin, stelle ich mich in einer Fahrradunterführung unter. Und frage
Passanten, wo es zur Innenstadt geht. Gleich um die Ecke, sagen sie. Tatsächlich. Als die Sonne wieder heraus
kommt und ich weiterfahre, sehe ich, dass ich direkt beim Bahnhof bin. Ich sperre mein Rad erstmal am Piazza Center ab
(ein großes Einkaufszentrum neben dem Bahnhof, mit einem Glasdach auf hohen Säulen) und bummele durch die
Geschäfte. Dann weiter durch die Fußgängerzone.
Irgendwo steht ein amerikanischer Schulbus herum, der als Drogeninformationsmobil dient – in den liberalen Niederlanden wird über Drogen aufgeklärt? Dann
komme ich zu einem weiteren Einkaufszentrum. Das auch schon irgendwie das Highlight der Stadt ist, welche mir recht
langweilig und unspektakulär erscheint. In der Fußgängerzone kaufe ich mir noch ein Eis und setze mich
hin, wo ich von zwei jungen Mädels zugetextet werde – sie wollen allerhand Dinge von mir wissen, sabotieren
sich dabei mit ihren schlechten Englischkenntnissen selber.
Auf dem Rückweg werde ich noch auf ein Ramsch-Geschäft in der Fußgängerzone aufmerksam, und kaufe mir auch gleich einen elektrischen Mückenvernichter – sieht aus wie ein Tennisschläger, aber dort liegt Hochspannung an, so dass man Insekten fangen und braten kann. Cool. Gibt es in Deutschland (noch?) nicht (ich kenne es nur aus einer Erzählung einer Mitstudentin, die das in Thailand gesehen hat). Am späten Nachmittag bin ich dann wieder zurück am Camp. Als ich dann irgendwann in meinem Zelt liege, kommt eine Gruppe Jungs vorbei und lassen die Bemerkung fallen: „Dieses Zelt ist wie AWK.“ (Sie meinen mein Zelt.) Ich frage: „Wieso?“ – „Naja, klein und effizient!“, lautet die Antwort.
Abends regnet es dann wieder. Nachdem der Schauer vorbei ist, unterhalte ich mich mit einem von den Kölner CCClern. Er spielt mit den Zeltplanen herum und ist gerade dabei, das Gesicht der Frau auf den Club-Mate-Flaschen mit Planen auf dem Boden nachzubilden. Ansonsten recovern die Kölner gerade ihr Zeug, weil ihr Zelt (ein großes Pfadfinderzelt für alle Teilnehmer) anscheinend an einer tiefen Stelle steht und manche Bereiche sich in Pfützen verwandelt haben.
Ein Weckruf von Radio Subether reißt mich aus dem Schlaf. Es ist halb sechs Uhr morgens, es hat die ganze
Nacht über geregnet, es haben sich an mehreren Stellen riesige Pfützen gebildet, in denen jemand bis
über den Knöchel tief versunken ist. Und ein weiterer Schauer rollt an. Alle Zelte in meiner Umgebung
werden evakuiert, wir bringen unser Zeug in Zelt 4, und warten ab. Ich hatte Glück: Während rund um mich
herum einige Zelte abgesoffen sind, blieb mein Zelt trocken; meinen großer Rucksack, der nicht ins Zelt passt,
hatte ich in eine Rettungsdecke (a.k.a. „Illuminatenschutzfolie“) eingepackt und neben das Zelt gelegt – bei
Regen kein Problem, aber wenn das Wasser von unten gekommen wäre, wäre meine Ausrüstung gewässert
worden. Also auch wegräumen, wer weiß, was noch kommt. Aber der angekündigte Schauer, der das Fass
zum Überlaufen gebracht hätte, bleibt zum Glück aus – irgendwann kommt sogar die Sonne durch.
Und die Leute nehmen es mit Humor; besonders die Schilder von Donnerstag mit der Aufschrift „drink water,
prevent dehydration“, die jetzt teilweise in riesigen Pfützen stehen, sorgen für Belustigung. Die
Besitzer des Platzes fahren mit einem Traktor mit Tankanhänger auf den Platz und versuchen, zumindest vor den
großen Zelten das Wasser abzupumpen, aber es wirkt wie ein Tropfen auf den heißen Stein – der
Wasserstand der großen Pfützen sinkt zwar etwas, aber matschig bleibt der Boden trotzdem.
Während ich zufälligerweise mein Zelt an einer ausreichend hohen Stelle aufgebaut habe, haben die
Radio-Leute schon etwas mit dem Wasser zu kämpfen. Und vom Wau-Holland-Zelt meint jemand: „Uns bleibt auch
nichts erspart. Beim letzten Camp ist Wauland in der Windhose davongeflogen, und jetzt säuft es ab.“
Nachdem ich mir den Kaffee, der kostenlos im Zelt 4 gereicht worden war, reingezogen habe und ein bisschen an den
Arcade-Automaten im MegaBit-Zelt gespielt habe (stehen dort kostenlos zur Verfügung, ebenso wie diverse Flipper;
genauer gesagt sind es Original-Arcade-Gehäuse mit PCs im Inneren, auf denen ein Arcade-Emulator mit endlos
vielen Spielen läuft), bin ich wieder fit. Als ich meine E-Mails gelesen habe, kommt ein Typ vorbei, der noch
Freiwillige zur Müllbeseitigung sucht. Nachdem ich noch nichts anderes vorhabe, komme ich mit. Wir sind zu
dritt, haben einen kleinen LKW mit Laderampe, und laden die vollen Mülltonnen, die überall herumstehen,
ein. Dann fahren wir sie zum großen Müllcontainer, wo wir sie auf einer Rampe nach oben schieben und in
den Container kippen. Und dann das gleiche Spiel nochmal. Und nochmal.
Insgesamt viermal laden wir den LKW voll; nachdem jedes Mal ca. 13 Mülltonnen dabei sind, werden wir am Ende insgesamt gut 50 Mülltonnen geleert
haben, die über das gesamte Gelände verstreut stehen. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele sind und
dass das so viel Zeit kostet – insgesamt vier Stunden sind wir damit beschäftigt. Ich bekomme eine leise
Ahnung davon, wie viel Arbeit das sein muss, für eine derartige Menge von Leuten die Infrastruktur aufzubauen
und zu betreiben, denn diesem riesigen Gelände sieht man es nicht an, dass hier mehrere tausend Leute
untergebracht sind. Und fast alle Arbeit wird von Freiwilligen erledigt. Das ist beeindruckend. Dieses Jahr im Mai
habe ich mitgeholfen, an unserer Uni das Geophysikstudententreffen GAP zu organisieren – dort waren es nur ca. 130 Teilnehmer, und trotzdem musste ich
endlos viel Arbeit investieren.
Auf der Suche nach etwas zu trinken komme ich in die fooBar, das ist das
Zelt der Berliner, die dort gekühlte Getränke verkaufen. Zwar finde ich, dass sie ziemliche Wucherpreise
für die Club Mate verlangen, aber das ist mir jetzt egal. Während dessen stapft jemand mit Stelzschuhen
draußen vorbei; ich frage ihn, ob ich sie auch mal testen darf. Klar darf ich. Man muss sich an einen
erhöhten Punkt setzen, um diese Dinger anziehen und anschließend auch loslaufen zu können; man steht
mit den Füßen auf einer Metallplatte, außerdem muss man noch Gurte in Kniehöhe festziehen.
Unter den Schuhen befindet sich eine z-förmige Konstruktion, gespannt durch ein langes Kunststoff-Federelement,
welches an der Ferse befestigt ist und einfedert, wenn man den Schuh belastet. Ich habe so ähnliche Schuhe,
nämlich die Kangoo-Jumps; diese sind allerdings wesentlich einfacher
gebaut, in etwa Inline-Skates mit einer Blattfeder statt Rollen auf der Unterseite.
Mit diesem Ding dagegen hat man einen viel größeren Federweg; laut Besitzer kann man damit richtig schnell laufen, wenn man in Resonanz
kommt, aber das traue ich mich nicht. Auf dem stellenweise feuchten und weichen Boden fühlt man sich nicht so
sicher, und gerade am Knie ist der Halt doch zu gering, so dass es sich sehr schwammig anfühlt. Immerhin kann
ich laufen; die meisten anderen, die es nach mir ausprobieren, fallen auf die Schnauze.
Weil ich heute schon lange wach bin, verziehe ich mich am späten Nachmittag dann zu den Hängematten und
döse herum; anschließend hole ich mir was zu essen. Eine Weile später bricht dann wieder ein
Regenschauer über das Gelände herein, von einer Sekunde auf die andere – nachdem es den ganzen Tag lang
sonnig war. Ich flüchte rennend in eines der großen Zelte. Nach dem Regen bemerke ich, dass mein
DECT-Telefon fehlt. Muss ich denn wirklich immer mein ganzes Zeug über das Gelände verteilen? Oder habe ich
es verloren? In meinem Zelt liegt es auf jeden Fall nicht. Ich rufe mit meinem Handy an: es klingelt ganz dicht bei
mir. Also doch im Zelt. Aber nein, ich hatte es tatsächlich verloren – der Finder hat es mit sich herumgetragen
und stand zufällig nur wenige Schritte von mir entfernt (schön, dass man hier allen Leuten so vertrauen
kann!). Er schaut den Leuten vom CCC zu, die gerade dabei sind, eine Wasserrakete zu konstruieren; Wasser gibt es
schließlich genug, und auch ein Kompressor steht zur Verfügung, also viel Spaß am Gerät. Es
wird eine Startrampe erstellt, und nach und nach die Fluggeräte optimiert – mehr Wasser, ein
größeres Loch hinten, Stabilisierungsflossen und eine Nase mit Trimmgewicht. Der gesamte Chaos Computer
Club verwandelt sich in eine begeisterte Horde Spielkinder. Schaffen wir es, die große Rakete (vom Chaos
Communication Camp) zu treffen? Oder falls noch einmal ein AWACS-Flugzeug auftaucht ...! Die größte
erreichte Flugweite kommentiert Papillon natürlich mit „42 Meter!“, während über uns kurz ein
Regenbogen erstrahlt.
Nachdem ich mir noch ein paar Vorträge reingezogen habe, ist es Zeit für die Abschlussveranstaltung. Rop
fasst zusammen, dass dieses Camp ein ziemlicher Erfolg war – es gab keine größeren Probleme, und auch
finanziell sind sie mit einem nur geringen Defizit weggekommen. Auch die Anwohner zeigten sich sehr zufrieden; sie
hätten lieber dreimal im Jahr so ein Computercamp statt die anderen Großveranstaltungen, die mit viel mehr
Radau und Problemen verbunden sind. Auch andere Teilnehmer haben positive Rückmeldungen der Anwohner bekommen;
das WhatTheHack sei so friedlich und ruhig gewesen – beim Flevo-Festival, einem christlichen Jugendfestival, welches
in einer Woche stattfinden wird, würden die Leute dagegen immer die Sau rauslassen. Schön, so eine
Bestätigung, dass man eine Großveranstaltung also auch ohne großen kommerziellen Aufwand und ohne
viel Ärger mit Polizei und Anwohnern machen kann, so lange die Teilnehmer verantwortungsbewusst sind und
zusammenhelfen. Aber Rop hält sich bei seiner Rede nicht mit Eigenlob auf, sondern weist uns darauf hin, dass
dieses das letzte derartige Camp in den Niederlanden gewesen sein könnte.
Seit der internationalen Angst vor
Terror sei die Niederlande nicht mehr jenes tolerante und offene Land, für das es einmal gegolten hatte; sie
hätten schon massive Probleme bei den Genehmigungen gehabt, alleine weil sie nicht alles im Voraus angeben
konnten – bei einem Camp, das zum großen Teil auf der Hilfe der Teilnehmer beruht, kann man eben nicht Monate
im Voraus einen Ablaufplan einreichen. Bei einer rein kommerziellen Veranstaltung von einem Großveranstalter,
der alles aus einer Hand anbietet, sei das natürlich anders. Außerdem gäbe es ein neues Gesetz,
welches fordert, dass der für eine Großveranstaltung abgestellte Polizeischutz vom Veranstalter zu
bezahlen ist – das hätte hier die Kosten um etliche zehntausend Euro erhöht (ein gutes Dutzend Polizisten
in drei Schichten rund um die Uhr über vier Tage!), die Eintrittskarten würden um fast 50% teurer.
Aber Grenzen seien ja nur Linien auf Papier; sollte es sich als nötig erweisen, werde man in vier Jahren vielleicht
hinüber nach Deutschland abwandern. Das sei nicht als Niederlage zu verstehen – im Gegenteil, wir lassen uns
nicht kleinkriegen und die Veranstaltung verbieten, sondern reagieren flexibel. Drastisch, dass man im angehenden 21.
Jahrhundert noch so etwas sagen muss. Also ein gemischtes Fazit – Freude darüber, dass alles so gut geklappt
hat, aber düstere Aussichten für die Zukunft. Während die Verbreitung des Computers und die freie
Kommunikation über das Internet ein voller Erfolg geworden ist, ist die zunehmende Paranoia und Überwachung
eine drastische Niederlage für alle Datenschützer und digitale Bürger. Es ist bei weitem noch nicht
alles erreicht; Hacker werden dringender gebraucht denn je. Am Ende seiner Rede bittet er noch um unsere Mithilfe –
der Abbau sei ohne Unterstützung durch uns Teilnehmer einfach nicht machbar. Applaus – und dann beginnt die
Magie. Alle Teilnehmer beginnen, ihre Stühle zu stapeln; nach fünf Minuten sind sämtliche Stühle
im größten der Vortragszelte gestapelt, weitere fünf Minuten später auch in allen anderen
Zelten. Ohne Vorplanung, ohne Diskussion und Herumkommandieren, ja eigentlich sogar ganz ohne Worte tut jeder das,
was getan werden muss. Niemand steht dumm herum, jeder findet irgend etwas zu tun, und wenn es irgendwo einen Engpass
gibt, braucht man es nur zu sagen, und hat ein paar Helfer an der Hand. Innerhalb kürzester Zeit ist alles so,
als hätten hier nie Vorträge stattgefunden, alles verschwindet wieder fast spurlos. Queen, A Kind of Magic, falls jemand das Musikvideo kennt. Bis zum Abend ist dann alles
in die Container verräumt, und die großen Zelte sind vollkommen leer.
Nach dem Aufstehen mache ich mich gleich daran, das Zelt abzubauen; wie angekündigt hat es nicht mehr
geregnet, aber das Außenzelt ist noch etwas feucht. Ich lasse es auf der Wiese liegen, und mache mich auf den
Weg zum Hauptzelt. Dort werden gerade die Bierbänke, auf denen bis in die Nacht noch die Hacker mit ihren
Rechnern saßen, abgebaut und rausgetragen; ich helfe etwas mit. Dann ziehe ich mir im Zelt nebenan einen
Kaffee – das kostenlose Frühstück habe ich leider verpasst. Was gibt es jetzt noch zu tun? Wie
mir gesagt wird, bleiben die Zelte stehen für das Flevo-Festival, das in einer Woche hier stattfindet; das
würde bedeuten, dass eigentlich kaum noch etwas zu tun ist und ich mich aus dem Staub machen kann.
Ich packe mein Zelt zusammen und will mich gerade auf den Weg machen, da treffe ich die beiden Holländer von letztem
Mittwoch; sie sagen, es gäbe noch viel zu tun und ich solle doch bleiben. Gut, dann stelle ich mein Zeug in das
Hauptzelt und schaue, wo noch Hilfe gebraucht wird. Die Holzteile des Infotresens verladen wir in einen LKW, der sie
in eine Scheune fährt, wo wir sie wieder ausladen; anschließend bauen wir eines der kleineren Zelte ab
(nur die ganz großen Zelte bleiben stehen). Verankert ist es mit „Heringen“, die einen guten halben Meter lang
sind und fünf Kilo wiegen. Mit der Hand hat man keine Chance, aber der Gabelstapler zieht sie butterweich aus
dem Boden. Dann gibt es noch die Masten mit den Neonröhren von einem der großen Zelte zu entfernen; dazu
muss man zuerst die vielen Kabelbinder durchschneiden (die Kabelbinder-Industrie muss sich bei diesem Camp wirklich
saniert haben) und dann die schweren Stangen langsam zu Boden lassen, um nicht die Lampen zu killen.
Jetzt ist es kurz nach zwölf, und es scheinen wirklich die meisten Arbeiten erledigt zu sein. Ich nehme mein
Brompton, lade das Gepäck auf, und fahre die Allee hinunter zur Hauptstraße. Auf Wiedersehen, schön
war es! Am Bahnhof von Boxtel habe ich noch fast eine halbe Stunde Zeit, es gelingt mir, per EC-Karte eine Fahrkarte
aus dem Automaten zu ziehen, und dann unterhalte ich mich mit ein paar Dänen, die auch gerade abreisen. Sie
haben einen etwas seltsamen Heimweg vor sich: Zuerst mit dem Zug zum Flughafen Schiphol, dann mit dem Flugzeug nach
Kopenhagen, und dann mit dem Zug nach Jütland – es war die billigste Reisemöglichkeit.
Ziemlich schnell ist der Zug in ’s-Hertogenbosch; eigentlich hätte ich das auch mit dem Fahrrad fahren können, aber
dann wäre ich mit dem vielen Gepäck ziemlich verschwitzt angekommen. Die Dänen wundern sich, warum ich
aussteigen will, denn eigentlich will ich doch nach Utrecht, wo der Zug hinfährt. Aber diese Stadt will ich mir
auch nicht entgehen lassen. Am Bahnhof erst einmal der übliche Kampf mit dem Schließfach (am
Fahrkartenschalter bekomme ich Münzen gewechselt), dann geht es auf zur Besichtigung.
Die Innenstadt befindet
sich dreiecksförmig zwischen den Grachten; der Weg vom Bahnhofsvorplatz führt direkt dorthin. Ich lande auf
einem großen Platz, am Anfang komme ich gleich bei einem Fischverkäufer mit „Hollandse Nieuwe“
vorbei. Ich habe Hunger, also ziehe ich mir erst einmal einen Hering rein; bei der weiteren Umrundung des Platzes
bleibe ich noch bei einem Burger King hängen und futtere eine Portion Pommes. Auffällig: Die Getränke
sind hier viel größer als in Deutschland; was bei uns schon eine „große Cola“ ist, ist hier nur
Medium, es gibt noch „groß“ und „King Size“.
Was gibt es sonst noch zu sehen? Ich finde mich plötzlich wieder auf dem Weg zum Bahnhof, das ist die falsche
Richtung. Auf dem Rückweg zum großen Platz biege ich rechts in eine unscheinbare Straße ein, und
treffe bald auf eine Menschenansammlung, die auf einer Treppe nach unten zu einer kleinen Gracht steht. Ab hier
starten die Bootsrundfahrten, die in 50 Minuten durch die ganze Stadt gehen, dabei zum Teil auf einer engen Gracht,
welche durch ein sehr malerisches Viertel führt und unter etlichen Häusern durchgeht. An der Kasse ist eine
ziemliche Schlange; ich will mir erst einmal die Umgebung anschauen, bevor ich auf Bootstour gehe. Die Straßen
in diesem Viertel sind ziemlich eng, mit dem üblichen Fischgräten-Pflaster, und umgeben von alten
Backsteinhäusern, die teilweise von Efeu überwuchert sind.
Immer wieder entdeckt man neue Ecken und
Ansichten, hier und da taucht die Gracht auf, es gibt stattliche Häuser und auch vereinzelt grüne Inseln,
eine Treppe führt nach unten zum Wasser und bietet einen Blick unter den vielen tonnenförmigen
Brückengewölben hindurch, durch die das Wasser fließt. Wunderschön alles. Von einer Brücke
fotografiere ich die mit Pflanzen überwucherte Ufermauer und die Brücke mit Dach und Blumenkästen.
Eine Frau spricht mich dabei an; nein, die gelben Baustellencontainer auf der anderen Seite habe ich natürlich
nicht mitfotografiert. Sie arbeitet hier in Den Bosch und findet auch, dass es eine sehr schöne Stadt sei; die
Mittagspausen verbringt sie immer mit Spaziergängen. Wohnen tut sie allerdings in Nijmegen und pendelt mit
dem Zug hierher. Ich erzähle ihr von meiner letzten Hollandreise und den Eindrücken aus Amsterdam, wo in
der Innenstadt nur Verrückte unterwegs zu sein scheinen. Sie stammt aus Amsterdam und sagt, sie sei froh, nicht
mehr dort wohnen zu müssen.
Dann fahre ich weiter, besichtige die Kirche, und laufe dann durch die Fußgängerzone. Ein
Straßenprediger redet über Jesus; befinde ich mich hier jetzt im Bijbelgordel? Ansonsten hat diese Stadt den Ruf, die lebensfroheste der Niederlanden zu
sein; in der Tat, hier kann man es schon aushalten. Anschließend will ich die Bootstour machen – ich
scheine Glück zu haben, die langen Schlangen an der Kasse sind weg, allerdings sind auch sämtliche Tickets
für den ganzen Tag ausverkauft. Pech gehabt. Dann fahre ich eben mit dem Fahrrad noch etwas herum, entlang der
äußeren Gracht, zum Hafen und wieder zurück. Auf einer Postkarte hatte ich noch ganz moderne
Häuser gesehen, die würde ich mir auch gerne anschauen – aber ich habe keine Ahnung, wo sie
sind. Ich fahre zum Hauptbahnhof, denn dort hatte ich irgendwo einen Stadtplan gesehen (und zwar nicht nur von der
Innenstadt), leider finde ich ihn nicht mehr. Dann probiere ich es mal auf gut Glück, fahre nach rechts und um
den Bahnhof herum; dort sehe ich plötzlich diese Häuser mit glänzender Edelstahlfassade, die in
einiger Entfernung hintereinander aufgereiht stehen. Ich finde sie einfach faszinierend. Sie stehen eigentlich genau
auf der anderen Seite des Bahnhofs (Paleiskwartier), nur sind sie mir vom
Bahnsteig aus nicht aufgefallen.
Ich finde es schade, dass es bei uns selten so mutige und spektakuläre
Gebäude gibt. Vielleicht liegt es daran, dass man bei uns versucht, die Bebauung mehr oder weniger in die
Landschaft und Umgebung zu integrieren; hier gibt es jedoch nicht so viel Landschaft, an die man die Bebauung
anpassen könnte, zudem sind es die Holländer gewöhnt, das Land nach ihren Bedürfnissen zu
gestalten – und das geht auch mit Architektur.
Nach einer Fotosession auch bei den benachbarten Gebäuden
dieses sehr modernen, aber trotzdem nicht steril wirkenden Viertels packe ich mein Rad zusammen, gehe in den Bahnhof
und hole mein Gepäck. Ich hatte mich geirrt, mein Zug geht schon um 17:17, so bin ich jetzt genau rechtzeitig
dran; als er einfährt, bekomme ich einen Anruf von Alejandra, die mich in Utrecht erwartet und am zentralen
Treffpunkt in der Bahnhofshalle abholt.
Es ist wieder ein Doppelstockzug; ich nehme Platz in der oberen Etage, wegen der besseren Aussicht. Aber eigentlich bräuchte es das gar nicht, weil man immer etwas sieht – bei uns fährt man mit dem Zug durch die Landschaft, zwischen Bergen und über Täler, aber hier fährt man über die Landschaft, die Strecke führt meist auf einem Damm über das brettebene Land. Wir überqueren zahlreiche Wasserläufe und kreuzen auch eine neue Bahnstrecke – vielleicht ist das die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke Richtung Amsterdam (nein, es ist die Betuweroute, die eine schnelle Güterzugverbindung von Rotterdam Richtung Deutschland bringen soll).
Nach einer halben Stunde bin ich in Utrecht und schleppe mein Gepäck über den Bahnsteig. Nach deutscher
Gewohnheit trotte ich in die Fußgänger-Unterführung hinab und suche das Bahnhofsgebäude. Aber so
etwas gibt es hier nicht; an der Oberfläche erwartet mich nur eine Straße. Das Bahnhofsgebäude ist
brückenförmig über den Bahnhof gebaut, und hier oben ist auch die Haupthalle mit dem Treffpunkt. Also
rauf und wieder zurück; dort wartet schon Alejandra auf mich. Sie ist erstaunt, dass ich gleich mit Fahrrad
anreise; sie hatte sich schon Gedanken gemacht, wie sie mich am besten zu ihrer Wohnung mit öffentlichen
Verkehrsmitteln lotsen kann, aber das hat sich erledigt, weil wir gemeinsam radeln können.
Sie wohnt in einem Studentenwohnheim im Norden der Stadt, welches ein graues Hochhaus ist; im Lift wählt man zwar die vierte Etage
aus, aber sie wohnt keineswegs vier Stockwerke hoch, sondern zwölf: Wenn man aus dem Lift aussteigt, kommt man
auf einen Balkon, über den man die Appartments erreicht, und jedes Appartment erstreckt sich über drei
Stockwerke. In der Mitte ist der Eingang und die Küche sowie zwei Zimmer, im Ober- und im Untergeschoss jeweils
vier Zimmer, so dass zehn Leute hier wohnen. Momentan sind aber Semesterferien, so dass die meisten nicht da
sind.
Alejandras Zimmer ist von oben bis unten mit Postern zugeklebt und bietet eine tolle Aussicht nach Westen in
Richtung der untergehenden Sonne. Nachdem ich mein Zeug abgelegt habe, kocht sie uns ein Abendessen; zwei ihrer
Mitbewohner, Rianne und Marcel, sind auch dabei. Dann halten wir uns nicht lange auf, sondern ziehen mit den letzten
Sonnenstrahlen in die Stadt. Mit dem Fahrrad geht es wieder vorbei an der alten Windmühle (in der übrigens
die Besitzer der Metzgerei im Untergeschoß wohnen) in die Stadtmitte, und von dort zu Fuß weiter.
Ich bin wieder einmal erstaunt, mit welch fetten Schlössern und Ketten die Holländer ihre Fahrräder sichern,
gerade weil es ja keine teuren High-Tech-Bikes sind, sondern meist halb kaputt. Zuerst laufen wir entlang der Gracht
(Oude Gracht, welche sich s-förmig durch die Innenstadt zieht und als
Besonderheit eine Terrasse unten direkt am Wasser hat), dann Richtung Bahnhof; hier befindet sich ein hässlicher
Gebäudekomplex namens Hoog Catharijne – ein Einkaufszentrum, das
sich über mehrere Straßen hinweg erstreckt.
Über die gekrümmte Elisabethstraat laufen wir weiter zur Oude Gracht, und kommen zum Domturm. Dieser Turm, der
höchste Kirchturm der Niederlande, steht heute frei; im Jahr 1674 zerstörte ein Orkan das Mittelschiff, so
dass nur noch der Chor steht. Ganz in der Nähe, wo die Gracht eine Kurve macht, befindet sich Winkel van Sinkel, ein ehemaliges Kaufhaus – das älteste der
Niederlande, heute ist es ein Restaurant, wo es regelmäßig Tanzveranstaltungen gibt. Und ein Stück
weiter sehe ich in einem Fenster eine historische Karte ausgestellt, die das Haarlemmermeer zeigt – dieser
Binnensee wurde nach einer verheerenden Flut Mitte des 19. Jahrhunderts trocken gelegt, dort befindet sich heute
beispielsweise der Amsterdamer Flughafen.
Bald sind wir wieder zurück an der Potterstraat und setzen uns dann in eine Kneipe; es wird langsam dunkel und die Lichter gehen an. Alejandra bestellt sich ein „Kriek“ – ich kann mit dem Begriff nichts anfangen, aber erfahre, dass es ein belgisches Kirschbier ist. Und es schmeckt nicht schlecht! Wir bleiben aber nicht allzu lange, weil Alejandra morgen früh aufstehen muss. Die Gracht ist auch bei Nacht sehenswert, wenn sich die bunten Lichter der umgebenden Häuser im Wasser spiegeln – das könnte ich mir ewig anschauen.
Alejandra steht schon früh auf und fährt in die Arbeit; ich bleibe noch eine Weile liegen und lese. Dann
geht es in die Küche, wo ich zum Frühstück ihren Sandwichmaker in Betrieb nehme (diese Sandwiches
werden hier „Tosties“ genannt und scheinen recht populär zu sein) und ihre Brotvorräte
wegfuttere. Nachdem ich dann mein Zeug gepackt habe, verlasse ich das Haus und radle zuerst einmal zum Bahnhof, um
meinen großen Rucksack dort zu deponieren.
Schließfächer sind vorhanden, wieder mit dem bekannten
Magnetkartensystem, allerdings habe ich wieder einmal kein Kleingeld, und weit und breit niemand, der wechseln kann.
Nach einer kleinen Odyssee durch den Bahnhof, einem Einkauf im Supermarkt (was alles gar nicht so einfach war, weil
ich immer mein ganzes Gepäck mitgeschleppt habe) und einer netten Dame, die mir noch das restliche Geld
gewechselt hat, habe ich endlich genug Münzen für das Schließfach. Dann verlasse ich den Bahnhof
über das angeschlossene Einkaufszentrum Hoog Catharijne, welches mich
gleich drüben in der Fußgängerzone ausspuckt. So hässlich dieser Gebäudekomplex von
außen ist, so praktisch ist er von innen, weil man ohne Straßen überqueren zu müssen direkt in
die Bahnhofshalle über den Gleisen kommt.
Von dort aus radle ich erst einmal weiter Richtung Zentrum; bei der Oude Gracht bleibe ich hängen und muss erst einmal fotografieren. Backsteine und Wasser und Bäume, die sich darüber beugen, üben schon eine gewisse Anziehung auf mich aus ... oben in den Straßen laufen die Fußgänger, an den gusseisernen Geländern lehnen unzählige Fahrräder (natürlich Hollandräder), und unten zieht sich das Wasser wie ein langes Band unter den Brücken dahin. Grachten haben eben eine Funktion; es sind keine ungeliebten verdreckten Flussläufe oder verkieste Rinnsale, sondern auch Verkehrswege, sei es für Ausflugsboote, Privatyachten, oder auch Lastkähne, die von den anliegenden Häusern die Mülltonnen leeren – aber alles geschieht ganz unscheinbar, leise, nebenbei.
Weiter geht es entlang der Oude Gracht nach Süden, und dann entlang der parallel verlaufenden Nieuwe Gracht
nach Norden. Diese Gracht liegt etwas abseits und wirkt deshalb verschlafener, aufgeräumter, schlichter; die
Straßen sind kleiner, und streckenweise gibt es sehr viele Brücken, zu jedem Haus eine. Und einmal habe
ich gesehen, dass jemand direkt vor der Tür des Untergeschosses sein Kanu liegen hatte – kleines
Paradies vor der Tür.
Nachdem ich diese Runde beendet habe, entdecke ich ein Tourismus-Büro; dort finde ich ein Buch, in dem
gezeigt wird, wo das berühmte Rietveld-Haus steht (in der Prins Hendriklaan 50), welches der Architekt
Gerrit Rietveld, Mitglied der Künstlergruppe De Stijl, für die
Anwaltswitwe Truus Schröder-Schräder gebaut hat. Der Weg ist nicht schwer zu finden: der Nobelstraat (und
den folgenden Straßen) immer geradeaus folgen bis zum Kreisverkehr, dort geradeaus durch den Wilhelminapark,
und schon befindet man sich in der Prins Hendriklaan. Diese ist gesäumt von Backstein-Reihenhäusern (wie
eigentlich überall), nur das letzte (eigentlich unscheinbar kleine) Haus links (vor der Unterführung)
fällt aus dem Rahmen: Es ist zusammen gesetzt aus rechtwinklig angeordneten weißen und grauen
Flächen, garniert mit roten, schwarzen und gelben Elementen. Einerseits besticht die Klarheit der Komponenten
– jedes Bauteil ist einfarbig (die Farben sind klar und kräftig) und kontrastiert damit zu
den benachbarten andersfarbigen Komponenten. Andererseits ist das Haus alles andere als langweilig und
simpel – es passt überhaupt nicht in das klassische Schema „Quader mit Dach drauf“, ist sehr
unsymmetrisch (jedoch streng rechtwinklig) aufgebaut, bildet zwar einen recht kompakten (fast schon
würfelförmigen) Block, enthält aber auch raumgreifende Elemente wie Balkon oder Vordächer. Ein
Mondrian in Stein.
Zurück in der Innenstadt ist es schon bald Zeit für den Domturm. Um 13 Uhr treffe ich mich mit
Alejandra; wir holen die reservierten Eintrittskarten, anschließend setzen wir uns an die Gracht zum
Mittagessen, und ich schreibe an meinen Postkarten. Dann ist es Zeit für Domturm-Führung. 465 Treppenstufen
führen auf den höchsten Kirchturm der Niederlande; im unteren Bereich besichtigen wir zuerst die ehemalige
Kapelle des Bischofs, die geprägt ist von großen dunklen Glasfenstern und sehr dicken Mauern (heute kann
man diesen Raum mieten für festliche Anlässe).
Darüber befindet sich die Stube des Turmwächters,
die früher nur über die Außenseite mit Leitern erreichbar war; es heißt, dieser habe dort auch
Besucher empfangen und ihnen etwas zu trinken angeboten, was dann beim folgenden Abstieg über die Leiter ungute
Folgen hatte; eine holländische Redewendung hat dort angeblich ihren Ursprung. Als nächstes sehen wir uns
die Glockenstube an; die größten der Glocken werden nur an besonderen Festtagen geläutet, und man
benötigt vier Personen, die erst einmal zwei Minuten lang die Seile ziehen müssen, bevor der erste Ton
erklingt. Über der Glockenstube kommt dann der achteckige Turmbereich mit dem Glockenspiel, und ganz oben
gibt es schließlich eine Aussichtsplattform. Utrecht sieht von oben etwas aus wie Amsterdam (dessen Skyline man
in der Ferne sieht) – viele alte Häuser, hoch überragt vom Kirchturm, und unten verläuft die
Gracht. Wie bei der Westerkerk in Amsterdam.
Nach der Besichtigung des Domturms habe ich noch etwas Zeit; ich fahre zur äußeren Gracht (Singel), wo
an einem Steg unter Bäumen ein paar Boote festgemacht sind, setze mich auf eine Bank und schreibe Postkarten.
Alejandra muss noch etwas erledigen, darum bin ich allein. Kurz darauf setzt sich ein Typ neben mich und will
eine Unterhaltung beginnen. Er fragt mich, wie ich heiße, wo ich herkomme usw.; nach einer Weile sagt er dann,
dass er kein Geld mehr habe und ob ich ihm was geben könne. Aha, daher weht also der Wind. Freundliches Gerede
nur um Geld zu bekommen ist mir dann doch zu billig, und ich ignoriere den Typen, trotz fortgesetztem Bettelns.
Irgendwann verzieht er sich dann wieder.
Dann breche ich auf zum Bahnhof und kaufe mir Proviant. Um 17 Uhr treffe ich mich dort noch einmal mit Alejandra;
wir setzen uns in ein Café und reden noch eine Weile, dann muss ich langsam zum Zug. Gepäck aus dem
Schließfach, Postkarten einwerfen, Brompton verpacken, und dann kommt auch schon bald der Zug. Auf Wiedersehen!
Es war eine sehr schöne Zeit hier.
Der Zug fährt ab, und bald wechselt das flache Grasland zu einem sandigen, waldigen Gebiet – die
Veluwe. Während wir so dahinfahren, kommt eine Gruppe von Leuten mit Hund durch den Zug, sie haben
Ausweisschildchen umhängen – so sehen keine normalen Reisenden aus. Es kann gut
sein, dass sie nach Drogen suchen; aber sie finden nichts. Dann kommt Arnhem, Emmerich, Wesel, Oberhausen,
Duisburg; in Düsseldorf muss ich umsteigen (zum Glück am selben Bahnsteig). Auf dem Weg nach Köln
werden wir wegen eines liegen gebliebenen Zugs über Opladen umgeleitet und kommen zehn Minuten zu spät an;
nach Wechsel der Fahrtrichtung sitze ich jetzt im vordersten Wagen. Ab Siegburg beginnt wieder die Rennstrecke: Der
Zug beschleunigt immer weiter, bald jagen wir wieder mit 300 km/h durch den Westerwald. Das vorderste Abteil ist
diesmal nicht zugehängt, so dass ich rausschauen kann, was ich auch fleißig mache. Obwohl die Bahnstrecke
wie eine Achterbahn aussieht, spürt man nichts davon, Zug und Strecke sind optimal aufeinander abgestimmt.
Während man auf einer normalen Bahnstrecke meist sehr weit nach vorne sehen kann, aber der Zug manchmal nur
etwas unwillig und ruckelnd dem Verlauf der Schienen folgt, ist hier kein einziger Meter der Strecke gerade. Kurven,
Kuppen, Senken und Tunnels lösen sich permanent ab, man weiß nie, was als Nächstes kommt. An
mindestens einer Stelle ist die Strecke auch so wellig, dass man hinter einer Kuppe erst einmal nur Himmel sieht; wie
ein Highway in den USA, der zwar schnurgerade verläuft, aber mit großen Senken, aus denen unvermittelt
riesige Trucks auftauchen. Bei einer Bahnstrecke habe ich so etwas noch nie zuvor gesehen. Aber, wie gesagt, von dem
allen spürt man überhaupt nichts; wie als würde der Zug die Strecke auswendig kennen, fährt er
immer „Ideallinie“. Während dessen fährt man durch eine unendliche Allee von Oberleitungsmasten
(Betonmasten sind eben viel markanter als die unscheinbaren Stahlgittermasten), zwischen gelben Feldern, die in der
Abendsonne leuchten, und stückweise mit Blick auf die Autobahn. Egal ob Lastwagen oder PKW – wir sind
viel schneller, die rasende Weißwurst hängt alle ab.
Am Frankfurter Flughafen wandelt sich der Sonnenuntergang zu einem spektakulären Abendrot. Im Radio wurde die ganze Zeit von abklingenden Schauern geredet, daher auch die Wolkenformationen, aber es bleibt auch für den Rest der Fahrt trocken. Bei Ludwigshafen mischt sich der letzte Rest Abendrot am Himmel mit den tausend weißen Lichtern der Raffinerie am Boden – was für ein Anblick, aber viel zu schnell vorbei. Mannheim, Stuttgart, ein letztes Mal wird die Fahrtrichtung gewechselt, dann schaukeln wir weiter durch die Dunkelheit bis München. Dort sind die Straßen zwar nass, aber ich komme trocken nach Hause.
Das war eine Woche!