Paris–Brest–Paris 2007

von Christoph Moder

Paris–Brest–Paris ist ein Radmarathon, der, wie der Name schon sagt, von einem Vorort von Paris (Guyancourt, bei Versailles) nach Brest (an der westlichen Spitze der Bretagne am Atlantik) und wieder zurück führt. Über 1200 km in maximal 90 Stunden. 2007 war ich dabei, nachdem ich (eher überraschend) die Qualifikationsbrevets problemlos geschafft hatte.

Unterwegs habe ich per SMS meine GPS-Koordinaten nach Hause geschickt; den (lückenhaften) Track kann man hier sehen – eine detaillierte Karte der Etappen ist im Folgenden auch bei jeder Kilometerangabe verlinkt.

Samstag, 18.08.2007: Anreise

Intercity nach Stuttgart Gegen halb zehn Uhr vormittags begebe ich mich zum Hauptbahnhof. Obwohl ich mit den Vorbereitungen geistig schon seit Wochen beschäftigt bin, bin ich mir nicht sicher, ob ich alles dabei habe – ich sitze auf meinem Liegerad, und alles, was ich in den nächsten Tagen brauche, muss in meinen Satteltaschen sein.

Liegerad im Intercity Am Hauptbahnhof brauche ich erst einmal eine Fahrradkarte. Das Ticket selber ist schon längst im Internet gebucht, aber das geht nicht für die Fahrradkarte; darum reihe ich mich in die Schlange am Schalter ein. Aber als ich an der Reihe bin, macht die Verkäuferin Stress – ich hätte doch die Karte reservieren müssen, weil ich sonst keinen Anspruch auf einen Stellplatz habe. Schon klar, aber dafür ist es jetzt zu spät – könnten Sie mir bitte einfach das Ticket geben und es meine Sorge sein lassen, ob ich an Bord komme?

Der Intercity nach Stuttgart steht noch nicht bereit, sondern fährt erst kurz vor der Abfahrt ein. Also schlechte Karten, um in einem überfüllten Zug noch einen Fahrradstellplatz auszuhandeln – aber er ist nicht überfüllt, es gibt reichlich Platz.

Zugzielanzeiger Gute zwei Stunden später bin ich in Stuttgart. Erst einmal gehe ich ins Reisezentrum, um die Fahrradkarte für die Rückfahrt zu buchen – wie üblich erwarten mich endlose Schlangen, unentschlossene Kunden und überfordertes Personal am Schalter. Das Radl muss draußen warten (wie ist das eigentlich gedacht – was macht man denn mit dem Gepäck, wenn man alleine reist und sich hier anstellen muss, mangels Internet-Verkauf?). Dann habe ich meine Rückfahrkarte, und begebe mich zum Bahnsteig. Der grausilber-glänzende TGV steht schon bereit, und ich mache erst einmal eine Fotosession. Bis zur Abfahrt kurz vor eins ist es noch eine halbe Stunde.

TGV Das Fahrradabteil befindet sich am vorderen Ende, direkt hinter dem Triebkopf. Eigentlich eine Sensation, dass es überhaupt Fahrradstellplätze in einem Hochgeschwindigkeitszug gibt – wenn auch nur vier Stück und nur gegen telefonische Reservierung, aber bei der Deutschen Bahn ist sowas leider undenkbar. Der Einstieg ist etwas umständlich, weil man hinter der Tür erst einmal um die Ecke und zwei Stufen nach oben muss – hier am Ende gibt es kein Jacobs-Drehgestell, darum ist dieses Abteil etwas erhöht. Statt einer Sitzgruppe gibt es vier Klappsitze, wo auch vier Fahrräder untergebracht werden können. Ich installiere meine Speedmachine und verstaue mein Gepäck; und dann kommt auch schon der nächste Radfahrer, mit einem soliden Tourenrad mit Nabenschaltung, und schließlich noch eine Frau mit Fahrrad.

TGV und Liegerad Dann fährt der Zug ab. Schon bald erreichen wir die Schnellfahrstrecke, und es geht zügig durch diverse Tunnel dahin Richtung Kraichgau. Mein Sitznachbar, der mit dem Tourenrad, spricht mich an; Reiner ist Deutscher, der in Paris wohnt, und gerade von einer Radtour nach Nürnberg zurückkehrt. Die Durchsagen erfolgen auf Deutsch und Französisch; Reiner meint, der Akzent des Personals klinge belgisch. Obwohl ich einigermaßen gut französisch spreche, nehme ich leider keinen Akzent wahr.

im TGV Im letzten Tunnel vor dem Rheintal haut der Zug plötzlich die Bremsen rein, bremst von 250 km/h auf 60 km/h ab und wechselt auf das linke Gleis – denn es folgt die nur eingleisige Abzweigung Richtung Karlsruhe. Mit gemäßigtem Tempo geht es ins nahe Karlsruhe; dann geht es weiter, auf der ausgebauten Rheinstrecke, nach Süden; und weiter über die Abzweigung bei Appenweier und über den Rhein nach Straßburg mit seiner dunklen alten Bahnhofshalle.

Straßburg Ab Straßburg geht es in gemütlichem Tempo weiter durch das Elsass; bald gesellt sich der Rhein-Marne-Kanal zur Bahnstrecke, und Seite an Seite geht es kurvig durch die Vogesen. Zeitweise sieht man Schienen für Treidelloks neben dem Kanal, einmal verschwindet er im Tunnel parallel zur Bahnstrecke, und schließlich entfernen wir uns vom Kanal, der weiter zum Schiffshebewerk Arzviller mit seinem spektakulären Schrägaufzug führt.

RER-Vorortzug Nachdem wir die Vogesen verlassen haben, geht es noch eine Weile zwischen Feldern dahin, dann erreichen wir bei Baudrecourt die Schnellfahrstrecke. Zuerst zweigen wir nach rechts von der Hauptstrecke ab, auf nagelneue Schienen; das leichte Rumpeln hört schlagartig auf, wir rollen samtweich dahin. Dann geht es auf ein Überwerfungsbauwerk – im Elsass fahren die Züge rechts, wie in Deutschland, aber im Rest von Frankreich herrscht Linksverkehr. Dann befinden wir uns auf der Schnellfahrstrecke, und das Gerät dreht auf – die Motoren heulen auf, wir erreichen die Höchstgeschwindigkeit von 320 km/h, und halten diese für die nächste Stunde.

Langsam wird mir klar, warum solche langen Schnellfahrstrecken in Frankreich möglich sind, aber nicht in Deutschland – wir fahren durch ein leicht hügelige Landschaft mit Getreidefeldern, kaum jemals ist eine Ortschaft zu sehen, bis zum Horizont. Die einzige Abwechslung bieten vereinzelte Abzweigungen zu querenden Bahnstrecken und die drei Unterwegsbahnhöfe, die wir auch in Höchstgeschwindigkeit durchfahren.

Gare de l’Est in Paris Irgendwann queren wir die LGV Interconnexion Est, und der Zug reduziert langsam sein Tempo. Dann endet die Schnellfahrstrecke, wir fahren nach Paris hinein (schon erstaunlich, wie man aus dem sehr dünn besiedelten Ostfrankreich direkt in die Millionenstadt kommt); die Vororte Gagny und Bondy kommen in Sicht, die ersten trostlosen Plattenbauten und die ersten RER-Doppelstockzüge. Dann bremsen wir ab, und rollen um die letzte Kurve in den Gare de l’Est. Die Türen öffnen sich, und eine wahre Völkerwanderung setzt auf dem Bahnsteig ein.

Moulin Rouge Ich verabschiede mich von Reiner und rolle aus dem Bahnhof hinaus. Irgendwo habe ich einen Stadtplan; aber ich weiß, dass ich nach La Défense muss, und fahre erst einmal westwärts. Die nächste größere Straße, Boulevard de Magenta, hat einen Radweg – die nehme ich. Es ist schon ungefähr 15 Jahre her, seitdem ich das letzte (und einzige) Mal in Paris war; entsprechend diffus sind meine Erinnerungen, und ich habe mich gefragt, wie verrückt da das Radfahren sein müsse. Mit Radwegen hätte ich nie gerechnet. Die Pariser allerdings auch nicht. Obwohl die Bürgersteige der Boulevards mehr als breit sind und die Radwege in leuchtendem Grün darauf markiert sind, nimmt kaum einer Notiz davon und schlendert gemütlich darauf herum. Sturmklingeln hilft nichts. Ich denke, vielleicht muss ich an ihren Überlebensinstinkt appellieren, und fahre direkt auf die hinzu, oder nur zentimeterdicht an ihnen vorbei. Aber selbst das registrieren die meisten Leute nicht; im allerletzten Moment springen sie zur Seite. Gerade die Schwarzen, die hier in diesem Viertel anscheinend gehäuft auftreten, wirken absolut entrückt und registrieren mich nicht.

Blick von La Défense Richtung Innenstadt Ich biege bei der nächsten großen Straße, dem Boulevard de Rochechouart, nach links ab. Plötzlich komme ich am Moulin Rouge vorbei; nett, geplant hatte ich es ja nicht. Kurzer Fotostopp. Der Radweg verläuft hier teils auf der Straße, teils auf dem Grünstreifen in der Mitte. Sicherheitshalber bleibe ich auf der Straße. Das ist aber auch kein Problem; hier sind viele Rollerfahrer und auch Radfahrer mit Leihfahrrädern unterwegs, die kreuz und quer fahren, so dass die Autofahrer Rücksicht nehmen – auch wenn Dauerstau herrscht und man sich zwischen den Fahrspuren durchschlängelt.

La Défense Dann komme ich zum Arc de Triomphe. Das Teil sieht immer wieder beeindruckend aus; und es kommt auch gerade die Sonne wieder heraus, aus dem dicht bewölkten Himmel. Auf der Avenue de la Grande Armée fahre ich dann weiter nach Westen, in Richtung der Hochhäuser von La Défense; die Avenue des Champs-Élysées ist ja schon breit, aber auf der anderen Seite des Triumpfbogens ist die Straße noch breiter, ich fühle mich richtig verloren. Und Radfahrer gibt es hier auch keine mehr. Dann kommt die Porte Maillot, ein großer Kreisverkehr – allerdings ohne Fahrbahnmarkierungen, und entsprechend fahren alle kreuz und quer und ziehen diagonal von der innersten Spur hinüber bis zu einer Ausfahrt. Ein Auto übersieht mich und rammt mich fast. Glück gehabt!

La Défense Dann kommt die Brücke Pont de Neuilly über die Seine, und dann die Hochhaussiedlung La Défense – benannt nach den ehemaligen Verteidigungsanlagen, die vor der Stadt auf diesem Hügel standen. Die Métro in der Straßenmitte verschwindet im Tunnel, die Straßen verzweigen sich, und ich folge einem Fußweg nach oben zu einem Brunnen mit bunten Glasscheiben. Von hier aus hat man einen schönen Blick zurück auf den Arc de Triomphe; auf der anderen Seite dominiert sein modernes Gegenstück, La Grande Arche, das Bild. Dieses Hochhausviertel ist größer als ich gedacht hatte (obwohl es sehr konzentriert gebaut ist). Aber es ist kein steriles Büroviertel – nein, die vielen Wege und Plätze dienen den Bewohnern der umliegenden Viertel, meist ausländischer Herkunft, als Treffpunkt und Spielplatz. (Eigentlich darf man nicht „Viertel“ sagen, denn das alles gehört längst nicht mehr zu Paris – die eigentliche Stadt endet bereits unten an der Porte Maillot, dem ehemaligen Stadttor; dieses Hochhausviertel liegt auf dem Gebiet der Nachbargemeinden Nanterre, Courbevoie und Puteaux.)

Ich rolle mit meinem Liegerad unter den staunenden Blicken der Passanten weiter bis zur Grande Arche, und fahre dann dahinter über einen kleinen Weg nach Süden. Dort muss ich irgendwo zur Avenue Pablo Picasso – aber ich ende in einer Hochhaussiedlung vor dem verschlossenen Tor zu einem Park. Mein Hotel befindet sich irgendwo auf der anderen Seite; und so bleibt mir nichts anderes übrig, als herumzufahren. Das Hotel finde ich dann recht schnell; es liegt in einer ruhigen Gegend, direkt südlich vom Park – nichts deutet darauf hin, dass von diesem Vorort in fünf Gehminuten Entfernung der berühmte moderne Triumpfbogen steht. Ich checke ein; im Erdgeschoss ist ein leer stehender Konferenzraum, in dem ich mein Fahrrad abstellen darf. Im Zimmer lege ich mich bald darauf ins Bett und schlafe gleich ein – war ein anstrengender Tag heute.

Sonntag, 19.08.2007: La Défense und Guyancourt

Radweg beim Hotel Als ich frühstücke, regnet es. Dann hört es auf, und ich mache einen Spaziergang; der Parc André Malraux liegt direkt gegenüber. An diesem regnerischen Sonntag sind nicht viele Leute unterwegs, nur ein paar Jogger und ein Penner begegnen mir. Es ist eigentlich ganz nett hier – obwohl angeblich (wie ich irgendwo gelesen habe) die Wohnsiedlungen im Umkreis soziale Problemgebiete sein sollen. Skulptur im Park Der Park ist hügelig, in der Mitte gibt es große Freiflächen und einen See, in dem sich die Hochhäser im Osten spiegeln. Diese haben keinen langweiligen rechteckigen Querschnitt und sind mit einer lustigen „Flecktarnung“ bemalt – vieles hier in der Gegend wirkt modern bis futuristisch, aber eigentlich nicht ungemütlich. Beispielsweise im Norden, auf dem Weg, der zur Präfektur führt, ist eine Installation aus großen Glaskuben, die faszinierend in der Sonne glitzern.

Vorbei an einem botanischen Garten verlasse ich den Park, in Richtung La Défense. Ich komme durch einen Wohnblock-Komplex. Die Häuser stehen weitgehend auf Stelzen; im Erdgeschoss sind die Eingänge, die Zufahrten befinden sich ein Niveau tiefer, die Häuser haben Durchgänge und sind durch Brücken, Balkone und Treppen miteinander verbunden. Nett; allerdings beispielsweise vollkommen Fahrrad-feindlich.

Dahinter befindet sich dann ganz unerwartet der Friedhof von Puteaux. Hinter einem strengen, fast schon klassizistischen Eingang befindet sich ein recht konservativer Friedhof mit spießigen hochglanzpolierten Grabsteinen mit Metallbeschriftung. Hochhäuser hinter dem See Und direkt hinter der Friedhofsmauer erheben sich die Glasfassaden der Bürohochhäuser. Bizarr! Ich spaziere so herum und versuche, diese Anblicke fotografisch einzufangen; da kommt ein uniformierter Typ daher, und erklärt mir, dass das Fotografieren hier verboten sei. Obwohl nirgendwo ein Schild steht. Schade.

Friedhof von Puteaux Dann stehe ich zwischen den Hochhäusern. Vor mir La Grande Arche, der Riesenkubus mit Loch, der ein optisches Zitat des Arc de Triomphe einige Kilometer weiter östlich ist, auf der selben Sichtachse Richtung Avenue des Champs-Élysées, Obelisk auf der Place de la Concorde und Louvre. Cool! Ich muss da rauf! Der Aufzug führt frei durch das Innere des Bogens, um dann im Dach zu verschwinden. Das Dachgeschoss ist riesig; aber hier gibt’s nicht viel zu sehen; viele verschlossene Türen, eine Handvoll Bilder eines Malers, von dem man sich live malen lassen kann; ein Café und ein Souvenir-Laden. Wenn man hier hochfährt, will man eigentlich auf die Dachterrasse. Und von dort aus hat man auch einen echt tollen Blick über die Stadt. Unverständlich, warum nur ein recht kleiner Teil auf der Ostseite des Dachs begehbar ist, und nicht die anderen Seiten auch.

gefleckte Wohnblocks Wieder unten, laufe ich weiter durch das Hochhausviertel. Es ist erstaunlich groß, größer als ich es mir gedacht hätte. Das ganze Viertel befindet sich auf einer Anhöhe, die Durchgangsstraßen und die Métro werden im Tunnel darunter geführt, der gesamte Bereich zwischen den Hochhäusern ist Fußgängerzone. Und so kommt es, dass hier auch am Sonntag Vormittag zahlreiche Leute aufhalten – diese großen öffentlichen Plätze sind so etwas wie der Treffpunkt der Leute der umliegenden Wohnblocksiedlungen. La Grande Arche Als wieder einmal ein Schauer herunterkommt, gehe ich in das Untergeschoss eines Einkaufszentrums; alle Geschäfte sind geschlossen, aber ein paar Frauen haben sich einen Ghettoblaster mitgenommen und machen in der verwaisten Passage Gymnastik zu Immigranten-Hip-Hop.

Alle Gebäude sind quasi ebenerdig miteinander verbunden (es sind nur wenige Treppenstufen Höhenunterschied zwischen den verschiedenen Bereichen), und so merkt man erst, wenn man an den Rand des Geländes kommt, dass man gar nicht am Boden ist – sondern mehrere Stockwerke über den Zufahrtstraßen. Auf Rampen überquert man diese, und weiter geht’s zum nächsten Gebäude und durch einen Durchgang auf die andere Seite. Hat schon was Faszinierendes; auch wenn man der Waschbeton-Optik mancher Bereiche ihr Alter ansieht.

Blick von La Grande Arche Genauso künstlich-rechtwiklig, wie die Hochhäuser angelegt sind, ist beispielsweise auch ein Park, der im nördlichen Bereich des Geländes ist. Dieser befindet sich an einem natürlichen Hang; entsprechend ergibt der Rasen, korrekt kurz wie ein Teppich, zusammen mit den parallelen bergauf verlaufenden Hecken ein Bild, das Rolltreppen nicht unähnlich ist. In der Mitte befindet sich ein künstlicher Bach; das Wasser rauscht über Betonstufen herunter und verschwindet in unten in einem Gulli.

künstlicher Wasserfall Auf dem Weg zum Hotel schaue ich noch auf dem „Steg“ vorbei, der von La Grande Arche nach Westen über das Brachland hinaus führt und dann im Nirgendwo endet. (Verlassen kann man ihn über ein Baugerüst, das seitlich drangebaut ist.)

Dann ist es auch schon Zeit, nach Guyancourt zum Startplatz zu fahren, weil die Fahrradkontrolle und das Gruppenfoto anstehen. Weil der Reiseführer-Stadtplan wie üblich nicht die Außenbezirke einschließt, habe ich mir einen Ausdruck eines Internet-Plans mitgenommen, und versuche, den Weg zu finden. Skulptur in La Défense Vom Hotel aus geht es erst einmal links auf die große Durchgangsstraße nach Südwesten, der ich bis zur Seine hinunter folge. Dann muss ich nach links. Aus einer benachbarten Serpentine am Plan wusste ich, dass es hier wohl bergauf geht, aber die Steigung hinauf durch Bougival ist reichlich steil und nimmt auch kein Ende. Irgendwann geht es dann wieder abwärts, ich sehe das Ortsschild von Versailles, und bin bald in einer herrschaftlichen Allee mit Kopfsteinpflaster. Deren letztes Stück führt etwas bergauf – und ich befinde mich an der Schlosskapelle, direkt am Schlosshof. Endlose Menschenschlangen warten auf Einlass. Ein Mensch fragt mich, ob ich auch bei Paris–Brest–Paris teilnehme; er sei bei der Organisation mit dabei.

Brachland westlich von La Défense Vorbei am südlichen Schlosspark verlasse ich Versailles und erreiche Saint-Cyr-l’École. Man sieht immer mehr Randonneure, erkennbar an den Schildern mit der Startnummer. Zwei stehen am Straßenrand und reparieren – sie haben schon den ersten Platten. Aber Hilfe brauchen sie nicht. Hier muss ich irgendwo links fahren; es geht bergauf, den hohen Bahndamm entlang, durch eine Unterführung, und dann nochmal steil nach oben. Verdammt, das Gelände hier hab ich echt unterschätzt. Aber nachdem ich oben bin, geht es flach dahin; bald unterquere ich die Autobahn, und dann treffe ich Jörg, bei dem ich die Brevets gefahren bin.

Glaskubus bei der Präfektur Nanterre Der Kreisverkehr Rond-Point des Saules befindet sich gleich dahinter, und daneben das Gymnase des Droits de l’Homme, eine Sportanlage, die als Startpunkt dient. Die Anmeldung ist in der Halle, nach Ländern sortiert; es ist sehr gut organisiert, am deutschen Stand wird sogar fließend Deutsch gesprochen. Dann folgt die Fahrrad-Kontrolle. Sollte. Aber wegen des schlechten Wetters wurde sie abgesagt, lauten die Gerüchte. Das ist schon eher typisch: Am Anfang kommt ein riesiger Verwaltungsaufwand – ich musste einen langen Fragebogen ausfüllen, ein ärztliches Attest und einen Versicherungsnachweis bringen, und seitenlange Regelungen lesen und bestätigen –, aber dann kommt es doch anders, und gerade in Frankreich wird anscheinend nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. (Vom Bürokratieaufwand her sind sie den Deutschen nämlich überlegen.)

Schlosskapelle Versailles Dann das Gruppenfoto der deutschen Randonneure. Es ist etwas chaotisch, weil zwar eine Bühne auf dem Kreisverkehr rumsteht, aber wir bei weitem nicht alle draufpassen; und schließlich gelingt es nicht, alle Leute gleichzeitig für ein Foto zu versammeln. Die Mannschaften anderer Länder sind da disziplinierter. Anschließend geht’s zum Abendessen; Jörg kennt eine Pizzeria im Zentrum von Saint-Quentin, wir radeln ihm hinterher. Aber auf diese Idee sind auch andere gekommen; die Pizzeria ist voll, und das Personal vollkommen überfordert.

Gymnase des Droits de l’homme Danach muss ich noch zurück zum Hotel; diesmal auf einem anderen Weg. Ich will nicht immer die Karte rauskramen, so dass ich nach Gefühl fahre; wenn ich mich ganz grob orientieren kann, sollte ich ankommen. Erstmal über die Bahn drüber; dort erwartet mich ein Radweg, der mich nach Saint-Cyr bringt, und dann geht es über Versailles und Viroflay hinunter zur Seine bei Boulogne-Billancourt. Von da an auf stillen Wegen durch den Bois de Boulogne; hier kommt man sich wirklich nicht wie mitten in Paris vor. Dann kommt irgendwann ein Wegweiser nach Nanterre, dem ich über die Brücke nach Puteaux folge. Aber es geht zuerst auf kleinen Straßen im Zickzack lange bergauf, und dann wieder bergab; ich hätte geradeaus weiter bis La Défense fahren sollen, wäre direkter gewesen. Zurück im Hotel gehe ich bald ins Bett; bin aber nicht so richtig müde und kann lange nicht schlafen.

Montag, 20.08.2007: Start des Rennens

Versailles Nach dem Frühstück packe ich mein Gepäck und mache mich auf den Weg. Die Hotel-Angestellten sind interessiert; hier kommt anscheinend nicht oft ein Radler vorbei, erst recht kein Liegeradler. Nein, nicht nach Clignancourt, sondern nach Guyancourt fahre ich, um an einem Rennen teilzunehmen. Sie verabschieden mich und schauen mir zu, wie ich abfahre. Der Weg führt mich diesmal nicht hinunter bis zur Seine, sondern direkt den Gleithang hinauf; ich habe noch einmal einen schönen Blick auf La Défense, dann geht es weiter bergauf nach Suresnes und Ville-d’Avray und dann hinunter nach Versailles. Pavillon im Schlosspark Versailles Auf dem Platz vor dem Schloss stelle ich mein Fahrrad ab, um ein paar Fotos zu machen; dabei werde ich von ein paar Touristen angesprochen. Sie sind aus Brasilien und sind total fasziniert von meinem Liegerad; sie machen Fotos, wollen sich mal draufsetzen, und versuchen auch, ein paar Meter zu fahren – mit gemischtem Erfolg.

Dann schaue ich mir noch den Schlosspark von Versailles an. Durch ein Seitentor kann man hineinradeln; die Größe der Anlage, die Breite der Wege und die Sichtachsen sind beeindruckend. Ich radle entlang des Sees; die Büsche zwischen den Alleebäumen am Ufer sind in abwechselnden geometrischen Formen geschnitten, und letztendlich der gesamte Schlosspark samt See wurde vor dreihundert Jahren in Handarbeit angelegt und gepflegt – alleine das gibt einem eine leise Ahnung, wie luxuriös das Leben des Sonnenkönigs und seiner Nachfolger gewesen sein muss. Versailles: Petit Trianon Dabei ist der heutige Schlosspark nur noch ein Bruchteil des ursprünglichen Geländes. Ich steige hinauf zum Petit Trianon, einem kleinen Nebenschlösschen im Park, das schon für sich vielen Adelssitzen das Wasser reichen kann. Dann umrunde ich noch den See – das sind mehrere Kilometer, aber leider ist kein anderer Ausgang geöffnet.

Fahrräder im Wald Über Saint-Cyr-l’École fahre ich nach Guyancourt zum Gymnase des Droits de l’homme. Es ist gerade einmal Nachmittag, aber es sind schon etliche Radfahrer da – wahrscheinlich hatten die auch nichts anderes zu tun, wie ich. An den Essensständen kaufe ich mir etwas zu futtern (es gibt allerdings keine typische „Radlernahrung“, sondern nur Gegrilltes etc.) und schaue mich um. Die meisten Teilnehmer sind mit dem Rennrad unterwegs; nur ganz wenige Exoten sind zu finden, beispielsweise einige Moultons – und der Blickfang schlechthin ist ein Engländer in Ringelhemd und Baskenmütze, mit seinem historischen Fahrrad mit Zweigang„schaltung“ (Langsamgang ist, wenn man rückwärts tritt), Lederköfferchen auf dem Gepäckträger und einem Bund Zwiebeln am Lenker.

historisches Bike Es ist den ganzen Tag stark bewölkt, aber trocken. Am späten Nachmittag kommt jedoch die Sonne heraus; ich werde müde und lege mich auf den grasbewachsenen Wall neben dem Eingang, wo auch einige andere Randonneure liegen. Der hintere Teil del Hügels ist mit kleinen Bäumchen bewachsen; an sie angelehnt stehen diverse Rennräder, bereit zur Abfahrt.

Grillstand Dann rückt die Abfahrt langsam näher. Die erste Gruppe – Rennräder mit 80 Stunden Zeitlimit – stellt sich hinter der Turnhalle auf der Laufbahn des Sportplatzes auf, und startet dann in mehreren Teilgruppen. Sie werden hinaus auf den inzwischen für den Verkehr gesperrten Kreisverkehr (Rond-point des Saules) geleitet, und dort erfolgt dann der Startschuss.

Nachdem ich noch einmal Luft aufgepumpt habe, begebe ich mich an der Reihe. Zuerst einrücken über den Tunnel unter dem Kreisverkehr, dann Fahrradkontrolle am Stadion (funktioniert das Licht?). Dort sehe ich zum ersten Mal die anderen Spezialradfahrer auf einem Haufen versammelt: drei Quest-Velomobile, eine Leitra, ein Versatile, ein Ruderrad, ein Ruder-Back-to-Back-Tandem, und natürlich etliche normale Tandems und Liegeräder. Schnelle leichte Geräte wie das Optima Baron dominieren, aber ich sehe auch noch eine Speedmachine. Es sind auch die ersten Zeichen von Lokalpatriotismus zu sehen; manche Radfahrer haben Fahnen, die ähnlich wie die US-amerikanische Flagge aussehen, aber in schwarz-weiß. Wie ich später erfahre, ist das das Symbol der Bretagne. Und ich treffe auch Felix; er ist aus Berlin, aber hat seine Brevets in Osterdorf (bei Pappenheim) gefahren, und war Anfang des Jahres auf dem HPV-Stand auf der Messe CBR in München, woher ich ihn kenne. Er ist mit einem Flevo Racer unterwegs – ein flaches knickgelenktes Flevo-Bike, das er wegen der großen 26"-Räder gewählt hat.

anstellen zur Abfahrt Bei der Fahrradkontrolle wird bei mir kritisiert, ich müsse das Licht einschalten – dabei ist es an, ich fahre nur nicht – ich habe einen Dynamo, als einer der wenigen; die überwältigende Mehrheit fährt Batterielicht. Alles dabei: Handtuch und gezuckerte Crêpes Und noch ein Unterschied: Die überwältigende Mehrheit hat neongelbe Warnwesten; ich habe eine orange, als einer der wenigen. Dann rollen wir hinaus auf den Kreisverkehr; da gibt es wieder Kritik über meine Beleuchtung, ein blinkendes Rücklicht sei verboten. Aber ein Dynamolicht blinkt nunmal, wenn man im Schritttempo fährt.

Nachdem wir noch einmal ungefähr eine halbe Stunde gewartet haben, geht es endlich los. (Weil wir Spezialradfahrer nur ca. 200 Leute sind, starten wir alle gemeinsam.) Pünktlich um 21 Uhr setzen wir uns in Bewegung – zeitgleich beginnt es leicht zu tröpfeln, aber das ist vergessen angesichts des Spaliers von jubelnden Menschen, durch das wir fahren. Kilometerweit! Überall stehen Leute am Straßenrand, vom Kind bis zum Greis, sie applaudieren und rufen uns zu: « Bon courage! » « Bravo! » « Bonne route! » Und so wird das über die nächsten Stunden auch weitergehen.

Leitra Wir fahren ein Stück auf einer Schnellstraße, dann zweigen wir ab und fahren auf immer kleiner werdenden Straßen durch die Dörfer, die sich hier nahtlos aneinanderreihen. Die Kurven sind teilweise eng, die Straße ist nass – so fährt man langsam, kann nicht überholen, und der Tross zieht sich immer weiter in die Länge. Ungefähr eine halbe Stunde nach dem Start erreichen wir endlich freie Strecke, und ich kann die Radler überholen, die vor mir so getrödelt haben. Ich war am Start im hinteren Bereich, und so ist der erste Teil schon auf und davon. Dafür habe ich freie Bahn, und kann jetzt mein eigenes Tempo fahren. Muss allerdings auch selbst den Weg finden, der anhand von Pfeilen an jeder Kreuzung ausgeschildert ist. (Ich muss zugeben, das ist mein einziger Hinweis – denn ich habe weder eine Karte, noch eine Wegbeschreibung, noch die Route auf dem GPS dabei. Ich verlasse mich ganz auf die Ausschilderung und die Mitfahrer.) In einem Dorf verpasse ich fast eine Abzweigung, aber die Bewohner stehen draußen, applaudieren und weisen mir den richtigen Weg.

am Start Rund zweieinhalb Stunden nach dem Start ist es vorbei mit der Einsamkeit; die ersten Rennfahrer der 90-Stunden-Gruppe tauchen auf. Sie sind eine halbe Stunde später gestartet, und die deutlich größte Gruppe; so ist es kein Wunder, dass die ersten von ihnen, uns mit unserem anfangs doch sehr gemütlichem Tempo bald eingeholt haben. Vielleicht wollen sie auch erst einmal freie Bahn haben, um dann ihr eigenes Tempo zu fahren – ihr Pulk muss ja ein- bis zweitausend Leute gewesen sein. Über die nächsten Stunden werde ich permanent von Rennradlern überholt.

am Start Ich dagegen versuche, mein eigenes Tempo zu fahren und zu halten. Viele Liegeradler sind nicht in meiner Nähe – vielleicht sind sie weiter vorne; bei mir sind eher die Tandems. Mal hält jemand an, mal überholt man jemanden, mal wird man wieder überholt – in der Summe bleibe ich bei den gleichen Leuten. In Erinnerung bleibt mir vor allem ein Liegeradfahrer, den ich „Lord Helmchen“ nenne, wegen seiner überdimensionalen Kopfbedeckung. Er rast immer wieder voraus, überholt alle, und dann sieht man ihn wieder irgendwo am Rand stehen. Das kann der doch nicht über längere Zeit durchhalten, erst recht nicht auf dieser gigantischen Gesamtdistanz! Aber ich beobachte dieses Spiel ungefähr zehn Mal bei ihm.

Seit wir die letzten Dörfer verlassen haben, geht es ziemlich flach dahin; die Straße war nach dem Start noch nass, was sicher auch ein Grund war, warum viele Leute im Pulk übervorsichtig durch die teilweise engen Gassen mit Pflasterpassagen gefahren sind; aber inzwischen, es ist Mitternacht, ist die Straße trocken, und die Temperatur ist angenehm.

Dienstag, 21.08.2007: St-Quentin-en-Yvelines, Mortagne-au-Perche, Villaines-la-Juhel, Fougères, Tinténiac, Loudéac

Verpflegungsstelle Mortagne-au-Perche Gegen ein Uhr nachts ändert sich die Landschaft; bisher sind wir immer wieder mal durch ein kleines Dorf gekommen, aber jetzt geht es durch eine absolut einsame Landschaft mit viel Wald; es geht lange Zeit leicht bergauf, dann irgendwann wieder etwas bergab.

Villaines-la-Juhel Gegen zwei Uhr nachts hat dann die Wolkendecke aufgerissen, und Sterne sind zu erkennen. Schön, wird doch noch alles gut! Inzwischen haben wir wieder Zivilisation erreicht, besser gesagt, wir sind wieder einmal durch ein Dorf gekommen. Obwohl mitten in der Nacht, standen ein Dutzend Leute an der Straße und haben uns applaudiert. Das gibt einem schon Auftrieb; ich klingle zurück und grinse.

Um Viertel vor vier erreiche ich Mortagne-au-Perche (Kilometer 140). Das letzte Stück war hügelig, und speziell in der Stadt selber geht es erst einmal steil bergauf, bis man im von Natriumdampflampen beleuchteten Hof der Mehrzweckhalle Le Carré du Perche einläuft. Eine Kontrollstelle gibt es hier noch nicht, aber das volle Versorgungsprogramm – nach rund 140 km bin ich auch wirklich pausenreif. Ich kaufe mir ein kleines Bier, ein Sandwich und noch einen Kaffee; dann fülle ich meinen Camelbak auf, und mache mich wieder auf den Weg. Inzwischen hat leichter Nieselregen eingesetzt; zitternd steige ich auf das Fahrrad und fahre weiter; dabei wird mir schnell wieder warm.

Liegeradler in Villaines-la-Juhel Gegen sechs Uhr hört der Nieselregen auf (war so schwach, dass man nicht richtig nass geworden ist); die Landschaft ist jetzt offener, mit vielen Wiesen; die Gegend rund um Mortagne war recht waldig. Dann wird es langsam hell; gegen Viertel vor sieben Uhr beginnen die ersten Hähne zu krähen. Die Strecke ist wieder hügelig, und ich erwarte schon die nächste Kontrollstelle. Sie müsste bald kommen – aber genau kann ich es nicht sagen, weil leider mein Tacho Ausfall hat; es ist so ein dämlicher Funk-Tacho, der anscheinend am Liegerad wegen der größeren Entfernung zwischen Lenker und Gabel nicht funktioniert (vor ein paar Wochen, als er neu war, ging er noch, aber vielleicht ist jetzt das Funksignal durch abnehmende Batteriespannung gerade zu schwach geworden).

Kontrolle Villaines-la-Juhel Um halb acht Uhr erreiche ich dann Villaines-la-Juhel (Kilometer 222; Zeitlimit: 11:40 Uhr). Der Ort ist festlich geschmückt: Ein Torbogen mit der Paris-Brest-Paris-Beschriftung überspannt die Hauptstraße, und im Rathaus ist die Kontrollstelle eingerichtet. Ein ganzer Pulk Leute drängt hinein; aber in der Schlange kommt man schnell vorwärts, alles ist straff durchorganisiert. Zuerst gibt man seine Magnetkarte, die durch einen Kartenleser gezogen wird und die Kontrollzeit für die Live-Berichterstattung auf der Webseite liefert. Dann gibt man das Kontrollbuch, in das ein Stempel mit Datum und Uhrzeit gemacht wird – Tradition muss sein, darum geht es nicht rein elektronisch.

Felix auf Flevo Racer Anschließend brauche ich was zum Futtern. Gegenüber der Kontrolltheke kann man ein paar Kleinigkeiten kaufen; macht mich aber nicht so ganz satt. Als ich rausgehe zu den Toiletten auf der anderen Straßenseite, stelle ich fest, dass es dort eine weitere Verkaufsstelle für Essen gibt – und einen großen Saal mit Bierbänken. Ich kaufe mir noch einmal etwas zu essen und einen Kaffee und setze mich hin.

Rowing Bike Als ich um neun Uhr weiterfahren will, steht Felix bei meinem Fahrrad – wir hatten uns aus den Augen verloren, weil er im Starterfeld ziemlich weit vorne war, und ich eher hinten; und jetzt hat er mein Fahrrad erkannt und auf mich gewartet. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Leider hat es inzwischen wieder angefangen zu regnen, aber es wird schon wieder weniger.

Nach zwei Stunden hört der Nieselregen langsam auf, und die Sonne kommt durch. Von Villaines aus ging es erst einmal bergauf, und seitdem geht es hügelig dahin. Eigentlich kein Problem; aber mich regen die Rennradfahrer auf. Sie fahren in großen Pulks und blockieren dabei die volle Straßenbreite – im Flachland wäre das ja noch in Ordnung, aber ich mit dem Liegerad bin nun einmal bergab schneller (wegen geringerem Luftwiderstand) und bergauf langsamer (wegen des höheren Gewichts) als die Rennradler. Entsprechend überholen wir uns immer wieder gegenseitig, und da nervt es, wenn diese Typen einfach nicht rechts fahren können, wenn ich bergab von hinten daher komme.

unterwegs nach Fougères Dann haben wir irgendwann Ruhe; es geht leicht bergauf, links und rechts stehen vereinzelte Häuser aus grauen, groben Steinblöcken neben der Straße, und bei manchen stehen die Familien draußen und verteilen Kaffee und Kuchen an die Radfahrer. Transparente grüßen einzelne Radler, die vermutlich von hier stammen. Aber wir halten uns nicht auf, wir müssten bald zur nächsten Kontrollstelle kommen, daher fahren wir weiter. Bald müsste es auch mal wieder bergab gehen (der höchste Punkt der ganzen Strecke ist nur gut 300 m hoch, daher weiß man, dass Steigungen nicht endlos sein können) – dummerweise will das erhoffte Gefälle einfach nicht kommen, und es beginnt wieder zu regnen, diesmal heftiger, es schüttet richtig.

unterwegs nach Fougères Dann geht es endlich bergab, und Fougères kommt in Sicht. Aber es schüttet inzwischen ganz ordentlich, so dass ich langsam nass werde. Zudem führt der Weg nicht einfach nur in die Stadt hinein, sondern die Pfeile leiten uns zuerst ganz nach unten, dann wieder ein Stück zurück bergauf, um etliche Ecken herum, und schließlich in den Hof des Lycée Jean Guehenno. Dort parken wir unsere Räder; und merken dann erst, dass die Kontrollstelle im allerletzten Gebäude ist, gut 100 m entfernt. Ich bin müde, hungrig, fertig, nass, und sowas gibt einem dann noch den Rest.

bei Tinténiac In der Kontrollstelle von Fougères (Kilometer 310; Zeitlimit: 17:30 Uhr), wo wir um 13:14 Uhr ankommen, ist der Boden schon ganz nass von den vielen Radlern mit nassen Füßen. Wir stempeln ab, und wollen uns dann was zu essen kaufen. Aber unten in der Cafeteria stand eine endlose Schlange; darum bleiben wir hier, aber hier gibt es nur Schinken-Sandwiches. (Unter „Sandwich“ verstehen die Franzosen übrigens ein Stück halbiertes Baguette mit Butter und Belag.) Also kaufe ich mir zwei Stück. Eigentlich wollte ich hier eine längere Pause machen, mich ausruhen, die Kleider trocknen ... aber hier ist alles ungemütlich. Wir fahren weiter. Zuvor muss ich aber noch etwas unternehmen gegen meinen wundgeriebenen Oberschenkel.

ich Anscheinend reibt eine Naht meiner Hose oder Unterhose. Normalerweise war das nie ein Problem, aber die Nässe verschärft das anscheinend so weit, dass ich schon nach 300 km wund bin. Es ist ja nicht so, dass ich ohne Regenzeug fahren würde; ich habe eine Gore-Tex-Überhose und -Jacke; aber wenn die Luftfeuchtigkeit derart hoch ist, ist es mit der Atmungsaktivität dahin, und man ist so oder so feucht, egal von außen oder von innen. Es ist nicht kalt, aber man fühlt sich eben die ganze Zeit klamm und läuft Gefahr, sich irgendwo wund zu reiben. Aber Felix weiß Abhilfe und leiht mir eine seiner Unterhosen mit Beinansatz. Zudem schmiere ich immer fleißig mit Zinksalbe ein, zur Wundheilung, und um die Haut gegen Reibung zu schmieren.

ich und Felix Als wir wieder fahren, hat der Regen aufgehört; es ist halb drei Uhr nachmittags. Aus der Stadt ist man recht schnell draußen, und dann geht es über einen winzigen sausteilen Weg ein Stück bergauf, dann über einen Kreisverkehr – aber nicht auf die Schnellstraße, sondern eine kleine Straße, die seitlich abzweigt. Dann geht es wieder dahin durch eine recht eintönige Landschaft – sehr grün, mit vielen Büschen und Hecken entlang der meist recht geraden Straße. Wir überqueren einen Bergrücken mit einem Sendemast, und eine Weile später sind wir in einem recht flachen Gebiet, das laut Vegetation einen eher sumpfigen Eindruck macht. Die Straße ist hier absolut schnurgerade und führt direkt auf einen Ort zu – Tinténiac (Kilometer 364,5; Zeitlimit: 21:40 Uhr), wo die nächste Kontrollstelle ist, und zwar direkt am Ortseingang (ein wohltuender Unterschied zu Fougères), im Collège Bel Air. Es ist 17:00 Uhr, als wir ankommen. In einer Baracke ist die eigentliche Kontrolle, und im großen Gebäude gibt es u.a. eine Kantine im ersten Stock. Ich brauche Futter und gehe hinauf. Hier herrscht zwar eine Luft zum Schneiden – sehr dampfig –, aber man muss nicht lange anstehen, ich lade mir das Tablett mit Omelette und einigen Kleinigkeiten voll, setze mich in den Speiseraum und futtere ausgiebig.

Lieger mit einseitig befestigen Rädern Um Viertel nach sechs Uhr bin ich fertig mit dem Essen und gehe wieder runter; auf dem Hof treffe ich wieder Felix und Johannes, die gerade aufbrechen. Ich bin so voll, dass ich jetzt etwas Ruhe gebrauchen könnte, aber sie wollen weiter. Na gut. Dann machen wir uns eben auf den Weg. Es geht wieder relativ eben dahin, trotzdem habe ich Schwierigkeiten, zu folgen – ich habe gerade einen Tiefpunkt, und muss mich zum Treten überwinden, um mithalten zu können. An einem Bahnübergang müssen wir warten; das bietet einen Moment zum Ausruhen – aber nicht lange, denn sobald die Schranken unten sind, rast der Zug durch, und sofort gehen sie wieder hoch. Nach ungefähr zwei Stunden erreichen wir dann einen der sehr sporadischen Orte auf der Strecke, Ménéac, sehen ein Café, und gehen rein. Bahnübergang Was gibt es zu essen? Nur Sandwich. Ok, jeder bestellt sich eines, und dazu noch einen Kaffee. Das musste jetzt sein. Die Rechnung ist absolut gesalzen, 24 € müssen wir für die vier Sandwiches bezahlen, und für den Kaffee noch einmal fast so viel. Aber was will man machen.

Ménéac Insgeheim hoffe ich ja schon wieder darauf, dass eine lange Abfahrt kommt und dort die nächste Kontrollstelle ist. Es bleibt ein Wunschtraum; aber nach dem Kaff kommt zumindest eine kleine Abfahrt in der Abenddämmerung, dann kommt wieder ein längeres Steigungsstück, danach die Abfahrt, und dann erfolgt noch eine längliche hügelige Strecke, bis wir schließlich in Loudéac (Kilometer 449,5; Zeitlimit: 04:05 Uhr) ankommen, der nächsten Kontrollstelle, im Lycée Saint Joseph. Stempel drauf, es ist 23:19 Uhr, und dann hoffentlich endlich schlafen.

Aber auf diese Idee sind nicht nur wir gekommen. Der Hof ist voll von Fahrrädern, und die Turnhalle ist längst belegt. Aber draußen befindet sich ein Bierzelt mit Biertischen; ich nehme die Sitzunterlage von meinem Liegerad, lege sie auf einen Tisch, und lege mich darauf zum Schlafen. Eine Stunde lang geht das gut; dann werde ich geweckt von der Kälte.

Mittwoch, 22.08.2007: Loudéac, Carhaix-Plouguer, Brest, Carhaix-Plouguer

Loudéac Müde bin ich immer noch. Aber ich gehe erst einmal nach innen, um mich aufzuwärmen und etwas zu essen. Die Kantine ist randvoll – aber nur wenige Leute warten an der Essenstheke, die meisten sitzen oder liegen an oder unter den Tischen und schlafen. In jedem kleinsten Winkel des Raumes liegt jemand und schläft, hinter der Eingangstür, neben der Theke oder auch über den Tisch gebeugt. Ich futtere mein Essen; dann will ich auch noch etwas schlafen, und setze mich auf den Boden, mit dem Rücken an ein Tischbein gelehnt. Aber es klappt nicht.

Loudéac Ich denke, dass es Zeitverschwendung ist, wenn man nicht schlafen kann, und mache mich bereit für die Abfahrt. Keine Ahnung, wo Felix steckt; aber wir werden uns schon wieder treffen. Zitternd vor Kälte nehme ich mein Fahrrad und navigiere hinaus auf die Hauptstraße – der Weg dorthin ist nämlich ein durch Absperrgitter begrenzter Parcours, der in mehreren Kurven und über eine Rampe in den Hof hinein und auch wieder hinaus führt. Es ist so gegen drei Uhr nachts.

hinter Loudéac Bald habe ich die mit dem gelben Licht der Natriumdampflampen beleuchteten Straßen von Loudéac verlassen; hinter dem Städtchen geht es erst einmal ein ganzes Stück bergauf und hinein in den Wald. Außer mir sind nur wenige andere Randonneure zu dieser Zeit unterwegs; und an den Steigungen fährt jeder sein eigenes Tempo. Es geht immer weiter bergauf durch den Wald; dann komme ich in das nächste Dorf. Dort haben sie an der Straße ein Zelt aufgebaut, in dem sie Kaffee, Suppe und diverse Getränke verkaufen. Ich halte an, kaufe mir eine kleine Cola (die Steigungen gehen mir auf die Nerven), und fahre weiter. Nach ein paar Kilometern kommt ein weiteres kleines Kaff, und danach geht es noch eine ganze Weile weiter durch den Wald – auf einer hügeligen, engen, kurvigen Straße.

Roc’h de Trévezel Rund eine Stunde nach dem Start kommen plötzlich Lichter entgegen – ein wahrer Christbaum. Es sind die ersten Randonneure, die schon wieder auf dem Rückweg sind. An der Spitze fahren die beiden Quest-Velomobile von Ymte Sijbrandij und Hans Wessels; und dahinter kommt ein Pulk Rennradfahrer. Die Szene hat definitiv etwas Gespenstisches, denn die Radfahrer kommen fast lautlos daher und sind gigantisch beleuchtet. Jeder hat einen (oder sogar zwei) Scheinwerfer am Lenker oder an der Vorderradnabe, viele dazu auch noch eine Stirnlampe. Alles kaltweißes LED-Licht.

sommerlich gekleidet auf dem Roc’h de Trévezel Dann kommen wir aus dem Wald raus und in einen kleinen Ort namens Corlay. Aber an der Kreuzung in der Mitte ist eine Straßensperre; wir werden umgeleitet, den Grund sieht man hundert Meter weiter in einer Halle: Geheimkontrolle (5:25 Uhr). Die Magnetkarte wird nicht durchgezogen, weil diese Kontrollstelle ja offiziell gar nicht existiert, es kann also auch keine Ankunftszeit ins Internet gestellt werden. Es gibt nur einen Stempel; ich ziehe mir noch einen Kaffee, dann geht es weiter.

Plougastel-Dalouas Eine Stunde später bin ich immer noch unterwegs. Es wird langsam hell, man kann wieder etwas von der Landschaft erkennen; ich habe inzwischen den großen Wald verlassen und bin in einer offeneren Landschaft mit vielen Hecken. Ich mag langsam nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr und muss mich überwinden, um halbwegs kraftvoll in die Pedale zu treten – um nicht schneckenlahm dahin zu rollen. Andauernd überholen mich andere Radler. Mehrmals muss ich anhalten und mich kurz erholen.

Plougastel-Dalouas, Blick über die Bucht nach Brest Weitere zwei Stunden später, gegen acht Uhr, fünf Stunden nach der Abfahrt in Loudéac, bin ich endlich in Carhaix-Plouguer (Kilometer 525,5; Zeitlimit: 9:55 Uhr) am Lycée Paul Cerusier. Endlich. Es ist höchste Zeit für eine Pause. Ich fühle mich zwar nicht erschöpft, war aber total lahm auf der letzten Etappe – jetzt brauche ich ein Frühstück mit viel Kaffee.

Zuerst lasse ich meinen Pass abstempeln, und will dann aufs Klo. Aber eine lange Schlange von Leuten wartet vor den wenigen Kabinen; es ist wie überall: An sich ist alles detailliert durchorganisiert und ausgeschildert, aber wenn es irgendwo zu einem Engpass kommt, sind die Franzosen flexibel wie ein Doppel-T-Träger. Dann spricht mich noch ein deutscher Randonneur an, der mich von einem Brevet kennt; ich erkenne ihn aber nicht wieder. Er fragt, wie es so geht; ich sage, es sei zuletzt nicht so toll gelaufen. Daraufhin meint er: „Dafür ist man immerhin schon auf dem Rückweg.“ Rückweg? Ich bin erst auf dem Hinweg! Da ist er erstaunt. „Hast du eine Panne gehabt oder was?“, fragt er verständnislos. Das hebt meine Moral keineswegs. Ich frühstücke erst einmal, und mache mich wieder auf den Weg. Hilft ja alles nichts.

Brücke vor Brest Auf jeden Fall hat die Pause gut getan. Außerdem scheint die Sonne, das hebt meine Stimmung. Und die Strecke ist landschaftlich schön. Zuerst geht es etwas bergab in ein Flusstal, und dann konstant bergauf. Dabei taucht Felix wieder auf und überholt mich. Er hat in Loudéac länger geschlafen und ist erst gegen fünf Uhr morgens losgefahren und ist jetzt zur gleichen Zeit hier – da sieht man, was Erholung bringt. Ich habe mal eben zwei Stunden länger gebraucht. Und dann kommt die nächste schlechte Nachricht: Felix meint, wir seien nur noch eine Stunde vom Zeitlimit entfernt, und dass wir darum nicht trödeln sollten, sondern besser etwas Boden gut machen, damit Zeit zum Schlafen bleibt. Er hat zweifellos Recht. Aber ich mache mir nicht viele Gedanken, sondern beschließe, wie immer mir einfach Mühe zu geben und zu hoffen, dass es reicht.

Kontrollstelle Brest Bergauf hat mich Felix abgehängt, aber ich komme trotzdem gut voran. Es ist eine lange Steigung – und ich weiß, dass ich auf dem Weg zum Roc’h Trévezel bin, dem höchsten Punkt der Strecke und auch der ganzen Bretagne. So gegen halb eins bin ich oben; eine wilde Landschaft mit Heidekraut, trockenem Gras und vereinzelten Felsen. Ich mache ein paar Fotos, und ein anderer Radler nimmt meine Kamera und fotografiert mich während der Fahrt. Dann kommt die flotte Abfahrt.

hinter Brest Unten sehe ich Felix wieder; er steht am Straßenrand und bastelt sich eine Kopfstütze. Weil ich weiß, dass er etwas stärker als ich ist, fahre ich schon einmal voraus – er wird mich schon wieder einholen. Zudem ist Gegenwind, vor dem ich mich etwas fürchte. Denn der kann recht eklig sein, man verliert Zeit, und die Motivation leidet auch. Aber der Wind hält sich in Grenzen, ich komme gut vorwärts. Nach einer Stunde kommt wieder Zivilisation in Sicht; ich bin in Plougastel-Dalouas. Es geht noch um diverse Kreisverkehre, bergauf, bergab, es zieht sich wieder, aber schließlich kommt der Atlantik in Sicht – und eine Schrägseilbrücke, die über die Bucht hinüber nach Brest (Kilometer 614,5; Zeitlimit: 16:15 Uhr) führt (wir fahren auf einer anderen, parallelen Brücke). Brest! BREST!!!

hinter Brest Auf der Brücke mache ich diverse Fotos; auf der anderen Seite geht es dann erstmal endlos bergauf, bis es schließlich rechts geht zum Lycée Charles de Foucauld, der Kontrollstelle. Auf dem Rasen am Vorplatz sind schon etliche Räder um die Absperrgitter drapiert. Es ist inzwischen kurz vor 14:00, Felix hat mich nicht eingeholt. Ich kaufe mir etwas zu essen, stecke das Handy an eine Steckdose, und warte auf ihn. Dann taucht er auf. Weil es so gut lief, genehmige ich mir insgesamt eine gute Stunde Pause. Felix braucht noch länger und sagt, ich solle schon mal fahren.

Roc’h de Trévezel Nachdem ich am Anfang der Tour vom Regen gut durchgewaschen wurde, nähere ich mich jetzt einem Sonnenbrand, und habe mich deshalb in Brest gut eingeschmiert. (In Carhaix hätte ich noch nicht gedacht, so etwas zu brauchen – ich hätte eher damit gerechnet, dass der Regen mir die Sonnencrème in die Augen spült.) Es geht nach wie vor super dahin. Sonne, blauer Himmel, es macht richtig Spaß. Hinter Brest geht es zuerst durch eine recht offene Landschaft dahin, und dann irgendwann bergab über eine lange, gerade Abfahrt in ein tiefes Tal, und auf der anderen Seite ebenso lang und gerade wieder nach oben. Von meinen Freunden zu Hause bekomme ich SMS – das motiviert schon, wenn man weiß, dass meine Mitbewohner, meine Eltern, meine schweizer Verwandten und diverse Freunde mich auf der Karte verfolgen und die neuesten Ereignisse im Liegeradforum live diskutiert werden. Jörg vom Liegeradstammtisch schreibt mir, dass schlechtes Wetter im Anzug ist. Noch ist der Himmel blau, aber gegen 17 Uhr bemerke ich, dass von Norden her Wolken aufziehen.

Roc’h de Trévezel Michael, den ich beauftragt hatte, mein GPS-Tracking-System serverseitig zu überwachen, hatte mir auf der Hinfahrt Probleme gemeldet – weil man auf der Strecke den Nullmeridian überquert, muss die Koordinatenumrechnung stimmen. Mein Programm testet, ob die Gradzahl positiv oder negativ ist und addiert oder subtrahiert entsprechend die Bogenminuten und -sekunden. Aber jetzt fällt mir ein, dass das Verhalten falsch ist, wenn die Gradzahl 0 ist – es gibt keinen Unterschied zwischen +0 und -0, aber in einem Fall muss man die Bogenminuten und -sekunden addieren, beim anderen abziehen; 0 wird jedoch immer als +0 interpretiert. Ich komme auf die Idee, bei 0 Grad westlicher Länge einfach eine negative Zahl bei den Minuten einzutippen; ich rufe Michael an, um nachzufragen, ob die Punkte jetzt stimmen – sie tun es. Das ist doch cool, während des Radelns seine Software gedanklich debuggen und einen Workaround finden.

am Roc’h de Trévezel Dann beginnt der Aufstieg zum Roc’h Trévezel; nach rund einer halben Stunde bin ich wieder oben. Zeit für eine kurze Pause; es ist 18:20 Uhr. Ich mache ein paar Fotos, dann geht es weiter. Bergab mache ich mir einen Spaß daraus, die Rennradler zu versägen, weil mein Liegerad nun einmal einen geringeren Luftwiderstand hat, ich bergab also gut dabei bin. Ab hier fahren wir wieder einen leicht anderen Weg als auf dem Hinweg; es geht nicht ab in das Flusstal, sondern es folgt eine Serie von langgestreckten Senken – bergab überhole ich die Leute, hole Schwung, und versuche, bergauf an ihnen dran zu bleiben. Ist sicherlich Energieverschwendung, aber es macht Spaß, und ist sehr motivierend.

Innenstadt von Carhaix-Plouguer Irgendwann, so gegen Sonnenuntergang, erreichen wir dann Carhaix-Plouguer (Kilometer 699; Zeitlimit: 22:55 Uhr), diesmal kommen wir durch das Zentrum. Ein hübsches Städtchen, nette Häuserfassaden, Girlanden quer über den Straßen, und leider viel Straßenpflaster. Als die Sonne gerade untergegangen ist, um 19:50 Uhr, komme ich zur Kontrollstelle, stemple ab, und kaufe mir ein warmes Abendessen. Felix taucht bald darauf auf; wir vereinbaren, eine halbe Stunde zu schlafen, und dann gemeinsam weiter zu fahren.

Als der Handy-Wecker klingelt, ist es längst dunkel; wir müssen los. Als ich mein Fahrrad hole, fühlt es sich so seltsam an – am Vorderrad habe ich einen Platten. Also schnell flicken. Das geht zum Glück reibungslos; vom benachbarten Reparaturservice-Pavillon leihe ich mir noch die Luftpumpe, dann können wir endlich los – wenn auch mit fast einer halben Stunde Verspätung. Es ist kurz vor zehn Uhr abends. Während der Reparatur habe ich einen Brompton-Fahrer gesehen; das Brompton habe ich schon bei der Abfahrt in Paris gesehen, aber war mir nicht sicher, ob der Besitzer vielleicht nur ein Zuschauer ist. Aber nein, er ist jetzt hier, er muss also ungefähr genauso schnell wie ich gewesen sein. Ich würde niemals mit meinem Brompton eine derartige Entfernung fahren. Châpeau! Kaum nachdem wir Carhaix-Plouguer hinter uns gelassen haben und auf der ersten Steigung sind, beginnt es zu regnen. Leicht genieselt hatte es schon an der Kontrollstelle, daher habe ich schon Regenzeug an.

Donnerstag, 23.08.2007: Carhaix-Plouguer, Loudéac, Tinténiac, Fougères, Villaines-la-Juhel

Bank in Corlay Es geht immer wieder bergauf; es ist stockdunkel, und so erkennen wir uns nur noch an unseren Scheinwerfern bzw. Rücklichtern – Felix hat zwei Scheinwerfer übereinander, die ich im Rückspiegel sehe, und er erkennt mich an dem blinkenden Hosenschutzband, das ich an einem Carbonstab hoch oberhalb meines Rücklichts befestigt habe. So fahren wir eine ganze Weile lang dahin, und der Regen wird immer stärker. Es schüttet wie aus Kübeln. Manchmal kommt ein Auto, und dann spiegeln sich dessen Scheinwerfer in der wasserbedeckten Straße – ganz eklig ist das. Macht keinen Spaß. Weit und breit kein Kaff, wo man eine Pause machen könnte. Wir setzen unsere Hoffnung auf die Geheimkontrolle in Corlay – wenn die noch da ist, könnten wir uns dort etwas ausruhen und einen Kaffee trinken.

unterwegs nach Tinténiac Aber als wir in Corlay ankommen, ist von einer Geheimkontrolle nichts mehr zu sehen. Der Ort ist wie ausgestorben; alle Häuser sind dunkel, und es schüttet immer noch wie aus Kübeln. Aber an der Hauptstraße ist die Filiale der Bank Crédit mutuel de Bretagne; wir stellen unsere Liegeräder ab, nehmen die Sitzmatten mit in den Geldautomaten-Vorraum (wo sich schon vier andere Radfahrer befinden), und legen uns auf den Boden, um zu schlafen. (Bei den Randonneuren nennt man Banken darum „Scheckkarten-Hotels“.) Etwas nervig ist, dass sich bei jeder kleinen Bewegung die automatische Glasschiebetür öffnet, aber wir schlafen gut. unterwegs nach Tinténiac Nach einer halben Stunde läutet mein Handy-Wecker – wir müssen weiter. Leider schüttet es immer noch, bei nur ca. 15 °C; ich steige zitternd vor Kälte und Erschöpfung auf das Fahrrad und fahre los. Wieder Ewigkeiten bergauf durch den Wald; es wird steiler, und so kann ich Felix zunehmend schlecht folgen – er ist bergauf stärker, außerdem kann er mit seinem Flevo-Bike nicht so langsam fahren, weil er sonst nicht mehr lenken kann. Ein paar Mal kann ich ihn einholen, dann ist er auf und davon. Ich fahre alleine weiter durch den Wald. Der Regen hört langsam auf; irgendwann kommt dann endlich Loudéac (Kilometer 775; Zeitlimit: 5:00 Uhr), um vier Uhr morgens. Es ist noch stockdunkel, die Stadt schläft – und ich bin froh, diese schwere Etappe hinter mir zu haben. Die Straßen sind noch nass, so dass ich fast auf einem Kanaldeckel wegrutsche; bei der Einfahrt in den Hof der Kontrollstelle durch die Absperrgitter bin ich entsprechend vorsichtig.

unterwegs nach Tinténiac Dort angekommen treffe ich Felix wieder. Ich esse etwas, dann schlafe ich eine halbe Stunde in der Ecke sitzend; danach machen wir uns wieder auf den Weg; Felix braucht noch etwas, ich fahre schon voraus. Langsam beginnt es zu dämmern; aber irgendwann wird es dann nicht mehr heller, denn es herrscht ein dichter Hochnebel. Alles ist feucht und dunstig. Den Regen sind wir zum Glück los, aber trotzdem ist noch alles kalt und klamm. Irgendwann kommt dann in einem Kaff namens Illifaut, das nur aus ein paar Häusern besteht, eine Geheimkontrolle; es ist 6:40 Uhr morgens. Felix hat mich inzwischen wieder eingeholt; nach dem Abstempeln unserer Roadbooks trinken wir noch Kaffee und beschließen, uns noch eine halbe Stunde zum Schlafen hinzulegen.

unterwegs nach Tinténiac Mein Handy-Wecker klingelt; ich stehe auf, und wecke Felix. Aber der schläft wie tot. Egal ob ich ihn mit Namen anspreche oder an ihm rüttele, er rührt sich nicht. Fünf Minuten später habe ich dann bessere Chancen, und wir machen uns langsam wieder auf den Weg. Die Landschaft ist wieder typisch nichtssagend: kleine Straße, links und rechts ein Straßengraben, daneben oft eine Hecke, und dann Wiesen und sehr vereinzelt ein paar Häuser. Auf den Straßen ist sehr wenig Verkehr, nur ungefähr alle Viertelstunde kommt mal ein Auto. Sowas wie Begrenzungspfosten und Seitenstreifen gibt es meistens nicht (von einem Mittelstreifen ganz zu schweigen); das ist der Grund, warum ich nachts keine SMS mehr geschrieben habe, weil es einfach zu anstrengend ist, im Scheinwerferlicht den Straßenrand zu erkennen, wenn man nur aus dem Augenwinkel hinschaut. Erst um halb neun habe ich wieder mit dem SMSen angefangen. Aber die Quote bleibt niedrig heute, weil ich bei dem klammen Wetter nicht so richtig Lust drauf habe.

Schlaf in der Scheune Bisher blieb es regenfrei seit Loudéac, aber die Sonne hat trotzdem keine Chance. Alles ist grau in grau; bei Becherel kommen ein paar Steigungen, und dort ist auch ein Funkmast, dessen oberer Teil komplett in den Wolken verschwindet. Eine halbe Stunde später erreichen wir dann Tinténiac (Kilometer 860; Zeitlimit: 11:45 Uhr), um zehn Uhr morgens; aber wir halten uns nicht lange auf. Eine bizarre Komponente dieses Rennens sind die vielen Fahrer, die am Straßenrand schlafen. Alle paar Kilometer sieht man einen herumliegen; oft in Rettungsdecken, manchmal auch ohne, oft unter Büschen, manchmal im Straßengraben (einzelne werden tatsächlich quasi vom Rad gefallen sein). Ich beobachte, wie einer vor mir absteigt, das Rad in die Wiese schmeißt und sich vor die benachbarte Scheune legt – das Tor ist offen, mit dem Kopf liegt er drinnen, und die Beine schauen raus (siehe Foto). Und auch immer wieder Fahrer, die eine Panne haben und ein Rad ausgebaut haben. Seit Anfang des Rennens, vielleicht alle zehn Kilometer im Durchschnitt. Inzwischen ist es kurz nach eins; langsam klart es auf und wird wärmer, ich ziehe die Regenjacke und Überhose aus.

hinter Fougères Um Viertel nach zwei komme ich nach Fougères (Kilometer 915; Zeitlimit: 16:15 Uhr); wie ein Schild am Ortseingang sagt, die Stadt mit dem ältesten Belfried der Bretagne. Felix hat mich an den letzten Steigungen abgehängt; ich treffe ihn in der Kontrollstelle wieder (14:23 Uhr). Hier gibt es nur wieder die üblichen Schinkensandwiches zum Essen; ich ziehe mir zwei rein, dazu noch einen Kaffee – und dann stocken wir unseren Vorrat an Nahrung für unterwegs auf, weil wir beide nichts mehr haben. Hier gibt es Power-Riegel und Power-Gel; wir sind neugierig und kaufen uns eine Packung von dem Power-Gel in Tuben; rund 20 € kosten zehn Stück. Und dieses Zeug von Overstims ist, wie sich rausstellt, echt eklig. Sowas wie Honig in der Tube. Auf einer Tour wie der hier frisst man alles, aber im normalen Leben würde ich das im Traum nicht anrühren.

Pause hinter Fougères Auf den letzten Kilometern ist die Sonne herausgekommen; und ich bin froh, dass mein Trikot und meine Hose endlich mal wieder trocknen können. Und weil mein Nacken langsam erschöpft ist (weil ich in der liegenden Fahrposition den Kopf immer nach vorne halten muss), beschließe ich, vor der Abfahrt den Sitz etwas steiler zu stellen – es ist zwar nicht schlimm, aber bergauf ist es angenehmer, wenn ich mit einer Hand meinen Kopf nach vorne drücke. Ich fülle noch meinen Camelbak auf, crème ich ein, und dann kann es los gehen. Aber als wir auf den Hof gehen, beginnt es wieder zu regnen. Verdammt!!! Meine Motivation stürzt schon wieder ab. Hinter Felix fahre ich durch das ausgeschilderte Straßenlabyrinth; es ist viel Verkehr, und ich muss andauernd hinter den Autos bremsen. Während es regnet, staue ich mich dahin. Und kaum ist man draußen, kommt auch noch eine lange Steigung. Na toll. Felix hängt mich jetzt endgültig ab, weil ich mich zu nichts mehr richtig aufraffen kann. Lustlos strample ich bergauf, werde dabei von anderen Randonneuren überholt; es ist Viertel vor drei. Oben geht es wellig dahin, und auch da habe ich ein eher lahmes Tempo. Zum Vergleich: Die beiden Quest sind schon in den frühen Morgenstunden in Paris angekommen, wie Felix in Erfahrung gebracht hatte.

Pause hinter Fougères Obwohl der Regen dann bald wieder aufhört, komme ich nicht so richtig in Fahrt. Nach einer Pause ist mir nicht zumute – ich bin ja nicht völlig erschöpft, sondern im Gegenteil, ich komme nicht auf Touren. Dann kommen wieder ein paar Häuser, wo die Bewohner einen Tisch aufgestellt haben und Kaffee und Kuchen verteilen. Ich beschließe, dass ein Stopp jetzt vielleicht doch nicht so falsch wäre; ich esse was, trinke zwei Tassen Kaffee, und lasse mir noch ein paar Minuten Zeit.

Kirche von Villaines-la-Juhel Das hat echt was geholfen. Danach läuft es besser. Die Steigungen sind jetzt auch vorbei; es geht ziemlich wellig dahin, aber tendenziell eher bergab, habe ich den Eindruck. Ich fahre vor und überhole etliche Radler; vermutlich alle die, die mich seit Fougères abgehängt haben. Es läuft wirklich gut, ich rolle das Feld von hinten auf. An den Abfahrten habe ich im Liegerad wieder einen Vorteil und ziehe vorbei, und mit dem Schwung gleich am nächsten Berg wieder halb nach oben. Es ist genauso wie nach Brest: Reine Energieverschwendung, aber es macht Spaß, und man hat das Gefühl, ordentlich vorwärts zu kommen. Langsam geht die Sonne unter, und in der Dämmerung komme ich nach Villaines-la-Juhel (Kilometer 1002,5; Zeitlimit: 23:10 Uhr), es ist Viertel nach acht Uhr abends.

Villaines-la-Juhel Das Städtchen gefällt mir auch auf dem Rückweg wieder besonders gut; die ganze Hauptstraße, neben der mächtigen grauen Kirche, dient als Fahrradständer (und ist auch gut ausgelastet von hunderten Rädern); es herrscht eine tolle Stimmung, die Leute applaudieren. Nach der Kontrollstelle brauche ich etwas zu essen, gerade weil ich auf dem letzten Stück flott unterwegs war. In der Kantine gibt es wieder leckere Sachen (Villaines hatte das beste Essen auf der ganzen Strecke) – ich kann mich nicht so richtig entscheiden zwischen einem Teller Nudeln und einem Stück Fleisch, und nehme schließlich beides. Die Frau an der Kasse staunt über meinen Appetit – aber hey, ich bin Randonneur, ich brauche das.

Villaines-la-Juhel Ich setze mich hinunter in den Saal und futtere meine Portion. Neben mir sitzt Martin, ein Deutscher; er hat auch eine ganz raffinierte Art der Live-Berichterstattung, er schreibt nämlich MMS. Mit dem Handy macht er Fotos und tippt kurze Texte, und sendet diese dann via MMS direkt auf eine Webseite. Nicht schlecht! Ich habe ja mein selbstgebasteltes GPS-Tracking-System am Start, was auch ganz nett ist (dafür, dass es so simpel ist), aber Fotos wären echt der Clou.

Villaines-la-Juhel Nach dem Essen brauche ich Schlaf. Am hinteren Ende des Saales stehen ein paar Bierbänke; ich lege mich drauf und bin sofort weg. Eine Dreiviertelstunde später werde ich von ein paar Frauen geweckt; sie weisen mich darauf hin, dass es einen extra Schlafsaal mit bequemen Betten gibt. Klar, weiß ich. Aber ich habe nicht so viel Zeit. In zehn Minuten hätte mich sowieso der Wecker geweckt. Aber nein, sagen sie, ich solle mich doch gut ausruhen, es sei doch zu gefährlich, übermüdet auf die Strecke zu gehen. Kann schon sein, aber ich habe keine Wahl, das Zeitlimit rückt unerbittlich näher. Ich bin echt todmüde, aber muss weiter. Gerade herrscht eine ziemliche Aufbruchstimmung; ich habe den Eindruck, alle sind schon weg und lassen mich alleine zurück. Felix sowieso; der muss schon vor meiner Ankunft gestartet sein, wir müssen uns nur kurz verpasst haben. Aber die Fahrradständer sind weitgehend leer, und ich bekomme etwas Panik – viel Zeit habe ich ja wirklich nicht, es ist zehn Uhr abends.

Freitag, 24.08.2007: Villaines-la-Juhel, Mortagne-au-Perche, Dreux, St-Quentin-en-Yvelines

hinter Mortagne-au-Perche Es ist längst stockdunkel, und ich fahre den vereinzelten Rücklichtern der Fahrer vor mir hinterher. Anfangs nieselt es ganz leicht, es geht langsam bergauf, und ich fahre wie weggetreten. Alles ist schwarz, und die Rücklichter tanzen vor mir herum, ohne dass ich ihnen eine Entfernung zuordnen kann. Meine Wahrnehmung ist nur noch 2D. Irgendwann, an einer längeren Steigung, werde ich wieder langsamer – und merke, so kann das nicht weiter gehen. Am Straßenrand stehen ein paar Häuser; ich stelle mein Rad ab, lege die Sitzmatte auf den Boden, und lege mich daneben am Straßenrand hin. Richtig schlafen kann ich zwar nicht, aber doch rund zehn Minuten im Halbschlaf vor mich hindösen. Dann geht es weiter. Und zwar besser als vorher. Ein, zwei Stunden später das Gleiche: Ich habe wieder zunehmend Schwierigkeiten, den Radfahrern vor mir zu folgen, und so schlafe ich noch einmal. Auf dem Boden war es unbequem; so klappe ich nur den Ständer aus, und bleibe auf meinem Rad sitzen – es lebe das Liegerad. Nach wieder ungefähr zehn Minuten bin ich wieder fit, fahre weiter, und hole wieder einige Radfahrer ein.

Wir überqueren die Autobahn von Alençon nach Le Mans – zwei der wenigen Ortsnamen, die mir etwas sagen. Ansonsten immer durch ein Niemandsland, mit winzigen Weilern im Nirgendwo. Es geht langsam immer weiter aufwärts, und die Landschaft wird waldiger. Irgendwann taucht dann eine Stadt mit einem imposanten Gebäude neben uns auf: endlich Mortagne-au-Perche (Kilometer 1084,5; Zeitlimit: 5:00 Uhr). Ich bin so froh. Diese Etappe war zwar vom Streckenprofil her nicht schwer, aber es war Nacht und ich todmüde. Es ist fünf Uhr morgens, ich bin haarscharf zum Zeitlimit angekommen. Nach der Kontrolle kaufe ich mir erstmal was zu essen, nämlich einen Teller Nudeln und ein Bier. Ich verschlinge die Portion; weniger aus Hunger, sondern aus dem Wissen, dass ich es brauche und nur noch nicht spüre. Aber währenddessen habe ich echte Probleme, die Nudeln scharf zu sehen – meine Augen schaffen es einfach nicht mehr, scharf zu stellen, ich bin zu müde. Gleich nach dem Essen hocke ich mich an die Wand und bin sofort eingeschlafen.

Nach einer halben Stunde geht mein Wecker; ich stehe auf, packe mein Zeug, und schwinge mich aufs Rad. Es ist etwa sechs Uhr morgens, und es beginnt gerade zu dämmern. Ich bin nicht alleine; mit mir machen sich diverse andere Leute auch auf den Weg. Zuerst geht es bergab aus dem Ort hinaus, aber dann, bei einem Waldstück, beginnt eine saftige Steigung. Mit mir unterwegs sind mehrere Tandems, mit denen ich mich etwas unterhalte, aber bergauf muss ich sie vorbeiziehen lassen. Die Steigung ist leicht machbar, aber eben nur ganz langsam. Unangenehm, wenn man nahe am Zeitlimit ist, aber sich andauernd überholen lassen muss. Und danach ist es noch nicht zu Ende; es folgen immer wieder Steigungen – mir kommt es vor, als würden wir stufenweise nach oben fahren. So geht das knapp zwei Stunden lang. Ich achte wirklich darauf, keine Zeit zu verschwenden, und so schreibe ich keine SMS mehr – über Nacht habe ich es sowieso nicht mehr gemacht, aus Sicherheitsgründen, aber auch jetzt gibt es Wichtigeres. Bei meinem GPS sind die Akkus leer, ich müsste sie erst wechseln, und dazu das Gerät aufschrauben ... dann gibt es halt vorerst keine Positionen mehr. Bloß ja keine Zeit mehr verlieren.

Kontrolle in Dreux Dann wird der wilde Wald plötzlich aufgeräumter, gepflegter, fast schon parkähnlich. Und tatsächlich: Wir kommen an einem Schloss vorbei; besser gesagt, an der Ruine des Château de La Ferté-Vidame. Beeindruckend. Aber nicht einmal für ein Foto nehme ich mir Zeit. Aber ich habe es jetzt geschafft; die Steigungen hören auf, und ich befinde mich in einer brettebenen Landschaft mit Feldern. Ich werde von einem Tandem überholt, das ordentlich Tempo macht, und hänge mich in den Windschatten. Mit letzter Kraft versuche ich, das Tempo zu halten; immer leicht über meinem Dauerlimit, immer kurz vor dem Krampf in den Beinen. Aber der Balance-Akt funktioniert. Ich hole meinen Rückstand langsam auf. Auf meist schnurgeraden Straßen geht es zwischen den Feldern dahin, mit großen Silos in der Ferne. Dann taucht ein Ort auf, mit einer großen Kirche. Dreux (Kilometer 1158,5; Zeitlimit: 10:10 Uhr)! Endlich. Kurz vorher zweigen wir auf eine Seitenstraße ab, dann geht es etwas verwinkelt um den Ort herum, bis zum Palais des sports, wo die Kontrollstelle ist. Puh, geschafft! Es ist kurz vor halb elf, ich habe das Zeitlimit zwar überschritten, aber bin nur 15 Minuten drüber (ich konnte durch die Aufholjagd im zweiten Teil der Etappe meine im ersten Teil angesammelte Verspätung wieder teilweise reinholen). Was wird jetzt passieren? Nichts. Die Kontrolleure sagen nichts. Wie ich später erfahre, gelten die Zeitlimits an den Unterwegskontrollen nur für Rennradler, nicht für Spezialradfahrer; trotzdem tue ich gut daran, mich daran zu halten, weil sonst das Gesamtlimit nicht zu schaffen ist.

Kontrolle in Dreux In der Turnhalle tobt das Leben. Sportler sitzen gemischt mit Einheimischen, an verschiedenen Tischen wird Essbares verkauft, und in der Mitte sitzt ein Alleinunterhalter mit Akkordeon, der zu Begleitung aus der Konserve spielt. Recht gemütlich hier. Aber ich kaufe mir nur zwei Sandwiches (hier auch mit Camembert!) und noch eine Kleinigkeit, fresse es zügig weg, und schwinge mich gleich wieder aufs Rad. Das Sportgelände verlässt man hintenrum, dann geht es über die Bahngleise und hinunter zum Flüsschen Eure, und dann wieder bergauf auf die weite Ebene mit den Feldern. Wie auf einer Perlenkette fahren die Randonneure aufgereiht durch das Land; es läuft gut, das Wetter ist gut (es ist nur wolkig, die Sonne kommt manchmal durch), ich könnte mit anderen Radlern plaudern – aber sicher ist sicher; es sind zwar nur noch gut zwei Stunden bis zum Ziel, das sollte locker klappen (bei dem flachen Gelände müsste ich eine Stunde vor Limit ankommen), aber wer weiß. Also drücke ich aufs Tempo und arbeite mich nach vorne. Irgendwann verlassen wir dann die Felder, und es geht in den Wald – gehört das schon zum Schlosspark von Versailles? Im Wald geht es wieder wellig und kurvig dahin; Schilder verraten mir, dass wir irgendwo bei Rambouillet sein müssen. Dann kann es ja eigentlich nicht mehr weit sein. Aber die kleinen Wege wollen einfach kein Ende nehmen; wir kommen an Mauern vorbei, die zum Château de Rambouillet gehören könnten, durch ein adrettes Dörfchen namens Montfort l’Amaury, und dann wieder durch den Wald. Gefühlsmäßig müssten wir bald am Ziel sein, denn vorhin auf den Feldern ging die Strecke ziemlich direkt nach Osten. Aber jetzt geht es schon eine ganze Weile auf diesen kleinen kurvigen und manchmal hügeligen Sträßchen im Wald dahin. Gut, ich komme gut voran, ich will mich nicht beschweren. Andere nicht unbedingt: bei einer leichten Abfahrt sehe ich eine Frau im Straßengraben liegen; ihr ist anscheinend nichts passiert – vermutlich ist sie eingeschlafen und dann mit einem der Kilometersteine am Rand kollidiert, was zum Abflug geführt hat.

Angekommen am Ziel Dann kommt irgendwann wieder ein Anstieg, an dem mir die Umgebung diffus bekannt erscheint. Wir müssen irgendwo bei Le Chesnay sein, dort bin ich nämlich am Sonntag vorbei gekommen, auf dem Weg vom Hotel in Nanterre via Versailles nach Guyancourt. Entsprechend vermute ich – da wir jetzt einige Kilometer direkt nördlich von Guyancourt sind –, dass wir vorbei am Schloss nach Süden fahren. Aber die Pfeile sprechen eine andere Sprache. Sie leiten uns über kleine Straßen durch Wohngebiete, und dann irgendwie über Viroflay und wohl auch Magny-les-Hameaux. Hier gibt es einige tief eingeschnittene Täler und entsprechende knackige Steigungen; wenn wir den direkten Weg fahren würden, wäre das kein Problem, aber so erscheint es, als würden wir wahllos die Hügel überqueren, um den Zielort zu umkreisen. Bei jeder Steigung denke ich, es müsse wirklich die letzte sein, weil ich mir sicher bin, dass wir schon ganz nah am Ziel sind. Entsprechend verausgabe ich mich; andererseits macht es auch Spaß, bergauf kurz zu sprinten und es bergab rollen zu lassen, statt dem Tross in seinem recht konstanten Tempo zu folgen. Irgendwann sind wir tatsächlich in Sichtweite des Kreisverkehrs Rond point des Saules, aber wir biegen ab; es folgt noch eine mehrere Kilometer lange Ehrenrunde, anscheinend durch alle Teilgemeinden von St-Quentin-en-Yvelines, und mit mehreren Ampelstopps. Aber selbst die halten mich nicht auf; ich bin gut im Sprint, und so ziehe ich immer an den Ampeln davon, und lasse mich dann wieder von meinen momentanen Mitfahrern einholen.

Schlange an der Kontrolle Irgendwann war es dann tatsächlich die letzte Ampel, ich erreiche den Kreisverkehr, werde von den Helfern zur Seite an die durch Absperrgitter gebildete Zufahrt geleitet, fahre unter dem Applaus der Zuschauer über die Holzrampe den Bordstein hinauf und die Zufahrt zum Gymnase des Droits de l’homme hinein, dann rechts herum zur Rückseite der Halle. Dort kann man seine Rad abstellen, und in die Halle zur Kontrolle gehen. Puh! Kaum zu glauben, ich habe es geschafft, nach 1227 Kilometern.

Dann gehe ich langsam in die Halle; es stehen schon lange Schlangen an der Kontrolle. Nach ein paar Minuten stelle ich mich dazu, rufe dabei meine Familie und Freunde an, um zu sagen, dass ich im Ziel bin. Irgendwie tut sich in der Schlange nichts, darum stelle ich mich nochmal neu in die benachbarte Schlange an – ich bin angekommen, und noch innerhalb des Zeitlimits (15:00 Uhr; jetzt ist es rund eine halbe Stunde zuvor); deshalb lasse ich es jetzt locker angehen.

Schlange an der Kontrolle Die Karte ist abgestempelt – was nun? Hier sind zwar viele Leute, aber alles hat so den Charakter einer Messe, mit den Ständen der Tourismus- und Fahrradverbände. Die Randonneure sind irgendwie nur Nebensache. Die meisten verschwinden auch gleich wieder, sie werden erwartet von Freunden oder Familie. Und ich? Für die Nacht habe ich ein Hostel in Paris gebucht, zuvor muss ich noch mein Gepäck, das ich im Bus von Jörg deponiert habe, holen. Und halt den Rest des Nachmittags irgendwie rumbringen.

Kreisverkehr am Ziel Zuerst löse ich meinen Essensgutschein ein; es gibt dafür aber nur ein Sandwich mit fettigem Camembert. An sich nicht so schlecht, aber irgendwie wäre mir was anderes lieber. Dann merke ich, ich hätte das lieber nicht essen sollen, bin noch zu fertig, um mich vollzufressen. Dann habe ich die Idee, mich zu duschen. Nach vier Tagen Dreck, Schweiß und Nässe ist das dringend nötig. Aber das ist scheinbar nicht vorgesehen. Es gibt zwar Duschen; allerdings habe ich kein Handtuch etc. da. Ich frage die Organisatoren; sie wissen auch nicht so recht weiter und schlagen mir vor, ich könne mir doch so ein Merchandising-Handtuch kaufen. Ähm, nein; ich will doch nur duschen, und mir nicht vorher erst den halben Hausrat zusammenkaufen müssen. Ich gehe wieder in die Halle; dort gibt es auf einer Seite eine Tribüne mit Holzbänken; ich lege mich hin, um etwas zu schlafen. Es ist zwar nicht sehr bequem, außerdem ist es in der Halle kühl, aber ich will einfach nur ausruhen.

Die Halle (Bild vor dem Rennen) Nach ein, zwei Stunden unruhigen Schlafs auf der Bank finde ich, es ist Zeit, sich aufzuraffen und nach Paris zu fahren. Zuerst schreibe ich Jörg, dass ich mein Gepäck brauche; er versucht mir zu beschreiben, wo sein Hotel ist – „zur Pizzeria vom ersten Abend, und dann noch weiter“. Aber so genau kenne ich mich nicht aus, und Stadtplan habe ich auch keinen. Schließlich meint er, Bettina käme mit dem Auto vorbei, Treffpunkt ist in einer halben Stunde draußen am Kreisverkehr. Langsam packe ich mein Zeug und gehe hinaus; alles ganz langsam, ich bin richtig fertig. Draußen sitze ich in der Abendsonne auf dem Bordstein und warte auf das Auto. Dann kommt Bettina; aber mir fällt es schwer, aufzustehen. Mit letzter Kraft hebe ich mein Liegerad in den Transporter und setze mich auf den Beifahrersitz. Laut Beschreibung hätte das Hotel nur ein, zwei Kilometer entfernt sein sollen; aber Jörg hat untertrieben, es ist deutlich weiter als bis zur Pizzeria in der Nähe vom Bahnhof. Ich bin echt froh, das nicht radeln zu müssen. Total fertig hocke ich im Auto, mir wird schlecht, Tür auf und rauskotzen, während der Fahrt.

Ich gehe mit ins Hotelzimmer von Jörg und Bettina, um mich zu duschen und endlich frische Klamotten anzuziehen. Aber ich brauche dazu ewig. Es ist ja nicht so, dass ich Schmerzen, Krämpfe oder Muskelkater habe; ich bin einfach nur total fertig und stehe etwas neben mir. Das sehen auch Jörg und Bettina und bieten mir an, mich erst einmal ins Bett zu legen (sie haben noch eines frei in ihrem Zimmer). Jetzt nach Paris fahren ist sicher keine gute Idee. Während sie essen gehen, schlafe ich; und bleibe dann gleich noch über Nacht liegen.

Samstag, 25.08.2007: Auferstehen von den Toten

Spinnweben mit Tau Als ich aufwache, fühle ich mich immer noch total erschlagen. Wir gehen erst einmal frühstücken. Ich bin zwar kein zahlender Hotelgast, aber mich fragt niemand. Ich wäre ja bereit gewesen, ein paar Euro zu zahlen. Allerdings ist der Service so grottenschlecht, es gibt nur ein paar Kleinigkeiten auf dem Buffet, und man muss nach allem fragen, selbst nach Besteck. Nicht so toll, gerade weil von unserer Gruppe außer mir niemand französisch spricht.

RER nach Paris Dafür ist unsere Gruppe umso netter – wir, das sind Jörg und seine Familie, außerdem einige Randonneure aus Österreich. Die Bekanntschaft stammt von einer Zeit, als es in ganz Süddeutschland keine Brevets gab und Jörg zu den Österreichern nach Wien gefahren ist. Die ersten Geschichten werden erzählt; beispielsweise, wie Jörg gestürzt ist, weil er den Kopf nicht mehr aufrecht halten konnte, und wie viele Radfahrer nur noch wie ferngesteuert unterwegs waren, ohne etwas von der Umgebung wahrzunehmen.

Bahnhof St-Quentin-en-Yvelines Nach dem Frühstück laden Jörg und Bettina ihr Gepäck in ihren Bus, geben mir mein restliches Gepäck, und ich radle los, auf dem Radweg entlang der Schnellstraße Richtung Bahnhof. Es ist kühl und unglaublich neblig; die Spitze des Wasserturms verschwindet im Dunst, und die unzähligen Spinnweben in den Büschen neben dem Radweg sind mit Wassertröpfchen benetzt. Ich habe keine Kraft mehr in den Beinen und rolle im Schneckentempo dahin; mich überholt ein anderer Randonneur und ruft mir zu: “See you again in 2011!”. Nichts liegt mir momentan ferner, als mich noch einmal einer derartigen Strapaze auszusetzen; aber wer weiß. Ich antworte: “Well ... I’m not sure.”.

RER-Zug Links ist der Bahnsteig, aber die Gleise sind hinter einem Zaun; den Bahnhof erreicht man unterirdisch, die Schalterhalle ist an ein Einkaufszentrum angeschlossen. Aus den Aushängen werde ich nicht so richtig schlau, wie viel eine Fahrkarte kostet; darum stelle ich mich am Schalter an. Aber die Fahrradmitnahme kostet tatsächlich nichts. Den Fahrplan habe ich dann auch irgendwann verstanden; trickreich ist, dass es nur wenige RER-Linien gibt, diese sich aber in viele Äste aufspalten, die durch kryptische Buchstabenkürzel benannt sind – man muss erst einmal rausfinden, welche Buchstabenkürzel von hier in die Innenstadt fahren.

Métro Les Halles Die Züge sind sehr geräumig; im Einstiegsbereich hat mein Fahrrad bequem Platz. Dann fährt der Zug ab. Die Strecke führt aus dem flachen Gelände mit der Retortenstadt St-Quentin-en-Yvelines zuerst nach Versailles, wo sie am Hang gegenüber dem Schloss entlangführt. Anschließend geht es nach einer Tunnelstrecke hinunter ins Seine-Tal; über einen Viadukt geht es hoch über den Häusern hinunter in das Tal, und dann unterirdisch am Seine-Ufer entlang bis zum Haltepunkt Pont de l’Alma. Wegen Bauarbeiten endet der Zug leider hier. Ich verlasse den Bahnhof (dazu muss man mir den Behindertendurchgang öffnen, weil die Drehkreuze per Fahrrad nicht machbar sind).

Hostel in Paris Ich radle über die Brücke und weiter, bis ich auf die Rue du Faubourg Saint-Honoré komme, und dann nach Osten. Vorbei am Élysée-Palast (dem Sitz des französischen Staatspräsidenten); die Polizisten schauen etwas verwundert, weil ein Liegeradler hier selten vorbeikommen dürfte. Dann komme ich zu Forum des Halles (wo es eine Métro-Station mit schönem Jugendstil-Eingang gibt), und anschließend über den Boulevard de Sébastopol und den Boulevard de Magenta nach Norden. Dort, wo die Hochbahn die Straße kreuzt, muss irgendwo meine Jugendherberge sein. Neben der Métro-Station Barbès-Rochechouart steht ein Schwarzer mit einem Einkaufswagen voller Holzkohle, der darin Maiskolben in Alufolie brät und verkauft.

schmales Haus in der Nähe des Hostels Die Jugendherberge ist direkt gegenüber; zwischen den Geschäften führt nur ein schmaler Eingang nach innen. An der Rezeption mache ich meine Reservierung klar (ich muss auch noch für gestern zahlen, weil ich es reserviert hatte), kann mein Fahrrad im Innenhof abstellen, und ziehe mich in mein Zimmer zurück, wo schon ein Engländer ist. Es ist inzwischen später Vormittag, und ich haue mich ins Bett und schlafe ein. Immer wieder wache ich mal auf, bin aber in einem müden Dämmerzustand und schlafe bald wieder ein.

Métro Barbès-Rochechouart Als ich dann einmal längere Zeit wach bleibe, entschließe ich mich, einen Spaziergang zu machen. Es ist inzwischen fast dunkel, so gegen neun Uhr abends, und ich laufe nach Montmartre – der nur ein paar Straßen entfernt ist. Treppauf muss ich mich am Geländer festhalten, weil ich kaum Kraft in den Beinen habe. Oben besichtige ich erst einmal die schneeweiße und nachs angestrahlte Kirche Sacré-Cœur, von der aus man eine tolle Aussicht über die Stadt hat. Im Inneren ist das Fotografieren verboten, aber ich mache trotzdem ein paar Bilder (ohne Blitz); ein Mensch in Uniform wirft mich daraufhin raus. Irgendwie erscheint mir das typisch: Es gibt viele Regelungen und Verbote, an die man sich aber nicht unbedingt hält (die Kirche war ja voller Leute, und andauernd hat es aus irgend einer Ecke geblitzt), und Personen in Uniform spielen dann willkürlich ihre Autorität aus.

Sacré-Cœur Auf den Stufen vor der Kirche sitzen unzählige Jugendliche, teils geschart um Musiker mit Gitarren oder einfache Ghettoblaster. Ich laufe wieder hinunter zum Boulevard de Rochechouart und will etwas essen; aber ich habe auf nichts so richtig Appetit – ich will nichts Fettes, nichts Würziges, und erst recht keinen Schinkensandwich. In einer Seitenstraße findet sich dann ein kleiner Laden, in dem ich mir eine Flasche frischgepressten Orangensaft kaufe. Seit den wenigen Bissen, die ich zum Frühstück essen konnte, meine erste Nahrung heute.

Zurück im Hostel treffe ich neue Mitbewohner an: zwei Schwestern aus Taiwan, die Europa bereisen. Es ist nicht ihre erste Reise, und sie waren per Flugzeug und Nachtzug schon in diversen Städten; Deutschland hat ihnen sehr gut gefallen, und speziell München – und sie beneiden mich, weil ich schon in so vielen Ländern war; allerdings ist das in Europa eben auch viel einfacher als in Asien, und ich habe sicher noch nie so weite Strecken zurückgelegt wie sie.

Sonntag, 26.08.2007: Stadtrundgang für Lahme

Blick aus der Métro Heute kehren langsam die Lebensgeister zurück. Nachdem ich gut ausgeschlafen habe, geht’s in die Dusche – und ich verstehe, was die Taiwanesinnen meinten, als sie sagten, sie sei eng, denn auf 70×70 cm muss man schon sehr gelenkig sein. Dann wird es Zeit für Sightseeing.

Arc de Triomphe Ich kaufe mir ein Touristen-Tagesticket und fahre mit der Métro nach Westen. Am Arc de Triomphe muss ich umsteigen; dann kann ich den gleich noch besichtigen. Es wartet zwar schon eine Schlange von Leuten, aber es geht trotzdem recht zügig. Treppauf bin ich zwar noch etwas defekt und schaffe es nicht im Laufschritt nach oben, bin aber immer noch schneller als die meisten Touristen (was ja keine Kunst ist). Trotz dunstiger Luft ist die Aussicht genial. Unter dem Bogen befindet sich eine riesige, im Wind wallende Flagge. Ich suche außerdem nach der Inschrift der Schlacht von Hohenlinden, finde sie aber leider nicht.

Blick auf die Champs-Élysées vom Arc de Triomphe aus Weiter geht’s per Métro zum Eiffelturm. Die Strecke verläuft unterirdisch, kommt aber zwischen den prächtigen Häusern am Seine-Ufer an die Oberfläche und überquert den Fluss auf einer Brücke. Dann folgt auch bald die Station Bir-Hakeim, benannt nach einer Oase in Libyen, wo die Franzosen im Zweiten Weltkrieg den deutschen Afrika-Feldzug stoppen konnten.

Métro über die Seine Von dort aus ist es nicht weit bis zum Eiffelturm. Aber dort sind die Menschenschlangen zig Meter lang; es ist sinnlos, hier stundenlang zu warten. Mag sein, dass es doch nicht so lange dauert, oder wenn man Treppen steigt statt den Lift zu benutzen – allerdings bin ich zu fertig, um hier lange in der Mittagshitze herum zu stehen. Inzwischen hat sich nämlich der morgendliche Dunst aufgelöst, und die Sonne beginnt herunterzubrennen. Ich laufe los, durch den Parc du Champs de Mars nach Süden, und dann weiter Richtung Invalidendom; ich laufe durch Seitenstraßen, auf der Suche nach einem Supermarkt. Gar nicht so leicht zu finden. Dafür begegnet mir ein Obstgeschäft, in dem es allerhand exotische Spezialitäten gibt. Ich ziehe ich mir wieder eine Flasche Orangensaft; unglaublich, wie viel man dafür zahlen kann (die 5-Euro-pro-Liter-Klasse findet sich in deutschen Supermärkten doch eher selten).

Das Hôtel des Invalides beeindruckt mich schon wieder durch seine enorme Größe; auf Fotos und auf dem Stadtplan wirkt das alles nicht so groß (weil die umgebenden Straßen auch so breit sind), aber wenn man davor steht, wirkt alleine der Vorplatz mit seinen Kanonen und den geometrisch zurechtgestutzten Büschen riesig. Eiffelturm Rue Mouffetard So gesehen schon beeindruckend, dass dieser Komplex vom Sonnenkönig nur für die Kriegsinvaliden (na gut, zumindest die höheren Dienstgrade) gebaut wurde – damit diese berufsunfähigen Veteranen sich nicht mit Betteln und Diebstahl durchs Leben schlagen müssen, beziehungsweise sich daraufhin zu paramilitärischen Banden zusammenschließen und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit werden. Im Inneren gibt es Ausstellungen über das Militärwesen (was mich nicht wirklich interessiert) sowie zwei Kirchen, von denen die eine, mit der goldenen Kuppel, als Invalidendom bekannt ist – vor allem als Grabmal von Napoléon Bonaparte. Aber das reizt mich auch nicht; ich hole mir im Café ein Eis, und laufe dann weiter, zur nächsten Métro-Station.

Diese bringt mich zum Bahnhof Montparnasse. Wollte ich schon immer mal sehen. Ist aber letztendlich nicht sehenswert; ein hässlicher, dunkler Beton-Bunker. Und nicht einmal ein TGV ist anwesend. Aber große Transparente werben für die Bretagne, beziehungsweise das Kulturfestival Breizh touch. Denn von hier aus starten die Hochgeschwindigkeitszüge in die Bretagne. Naja, bei mir war es ja nicht gerade Hochgeschwindigkeit.

Bouquinistes Dann geht es mit der Métro nach St-Germain-des-Prés; die romanische Kirche ist ein Teil der ältesten Abtei von Paris, die allerdings weitgehend zerstört wurde. Weiter geht es zum Jardin de Luxembourg, ein beliebter Park. Ich will eine Pause machen und setze mich auf die Mauer zum Palais de Luxembourg, das den Senat beherbergt. Aber sofort kommt ein Uniformierter und verscheucht mich – ohne dass ein Schild gesagt hätte, dass es verboten ist.

Notre Dame Vorbei an den Wasserspielen verlasse ich den Park und laufe durch die engen Gassen des Quartier Latin, vorbei am kuppelförmigen Panthéon, dem Ruhmestempel. Die Gegend hier, rund um die Montagne Saint-Geneviève, ist eine der ältesten Gebiete der Stadt. Teils sind die Gassen ruhig, teils auch belebt wie die Rue Mouffetard.

Weiter geht es zu les Arènes de Lutèce, einem alten römischen Amphitheater. Dieses wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt. Dann komme ich zum Campus de Jussieu, einer der großen Pariser Universitätskomplexe, der unter anderem das Institut de Physique du Globe beherbergt, eines der großen geowissenschaftlichen Forschungsinstitute weltweit. Aber ein hässlicher Betonkomplex, der zudem gerade Großbaustelle ist. Direkt daneben befindet sich der Jardin des Plantes; dieser aus dem 17. Jahrhundert stammende botanische Garten beherbergt auch einen Zoo. Nur dieser ist zum Besichtigen wohl halbwegs interessant; der Rest des Geländes, außerhalb der Kasse erscheint mir unspektakulär, darum gehe ich weiter; vorbei am Jussieu-Campus zum Institut du Monde Arabe, dem arabischen Kulturinstitut. Hinter der modernen Glasfassade befinden sich auf der Südseite 240 Mushrabije, traditionelle arabische Sonnenblenden.

Dann bin ich auch schon an der Seine, und laufe entlang der Stände der Bouquinistes, der Buchhändler. Centre Pompidou Ihre Läden sind einfache Holzkästen auf der Brüstung am Flussufer, mit Vorhängeschlössern gesichert; zum Verkauf werden die Kästen aufgeklappt und ergeben kleine Läden. Ich bin erstaunt, als ich eine Tafel entdecke, die besagt, dass diese Buchhändler schon seit dem 16. Jahrhundert hier anzutreffen sind – das hätte ich nicht erwartet.

Strawinsky-Brunnen Dann quere ich hinüber zur Île Saint-Louis und weiter zur Île de la Cité; von hier aus sieht man die Rückseite der Kathedrale Notre Dame, die von hier aus – ganz im Gegensatz zu ihrer wuchtigen und eckigen Westseite – sehr filigran durch das breite Strebewerk wirkt. Und natürlich hier sehr exponiert steht. Angesichts dessen bin ich vom Inneren etwas enttäuscht; gut, die bunten Glasfenster sind schon beeindruckend, aber ansonsten ist das Innere erstaunlich nüchtern.

Dann laufe ich nach Norden und komme nach einigen Minuten zum Centre Pompidou. Dieses Riesengebäude ist ein Kunst- und Kulturzentrum; es beherbergt unter anderem ein Museum, eine Bibliothek, ein Kino und ein Theater. Louvre Durch seine schiere Größe und durch sein technisches Aussehen – das gesamte Tragwerk sowie die Versorgungsleitungen befinden sich sichtbar auf der Außenseite – wirkt es wie ein Fremdkörper zwischen den alten Häusern (von denen auch diverse abgerissen werden mussten, um Platz zu schaffen), aber mir gefällt es gut. Arc de Triomphe du Carrousel Auf dem Vorplatz kaufe ich mir erst einmal eine große Cola; wie bereits in den Schulbüchern beschrieben ist das hier tatsächlich ein Treffpunkt, die Leute sitzen auf dem Boden des zum Gebäude hin geneigten Vorplatzes und Picknicken, daneben stehe Straßenkünstler, umringt von Menschentrauben. Auf dem Platz an der Südseite befindet sich der Strawinsky-Brunnen – ein Wasserbecken mit den weiß-bunten und kurvigen Nana-Figuren der Künstlerin Niki de Saint-Phalle sowie mit den mechanischen Konstruktionen ihres Ehemanns Jean Tinguely. Wunderschön! Seit meiner Kindheit, wo ich das Centre Pompidou mal in einem Buch gesehen habe, wollte ich es anschauen, und es ist wirklich so faszinierend.

Ich will auch einen Blick von oben haben; das geht nur, wenn man das Museum besichtigt, aber das ist es mir wert. Jardin des Tuileries, Obelisk Die Rolltreppe verläuft in einem großen Rohr diagonal über die Westfassade nach oben, und von dort aus hat man wirklich einen genialen Blick über die Dächer der Umgebung und auf Montmartre mit Sacré-Cœur oben drauf. Das Museum ist auch nicht schlecht; dort findet sich allerhand moderne Kunst, Bilder, Skulpturen und Lichtinstallationen. Aber ich habe nicht viel Zeit, laufe nur flüchtig durch und dann weiter.

Nächste Station ist das Forum des Halles; hier, am Standort der ehemaligen Markthallen (mit Jugendstil-Gusseisenbögen) wurde ein großes Einkaufszentrum errichtet, kombiniert mit einem bedeutenden unterirdischen Umsteigebahnhof. Place de la Madeleine Bisher habe ich nur unisono gehört, dass das Gebäude ein Schandfleck sein soll; allerdings gefällt es mir recht gut. Viel kann ich nicht sagen, denn es ist Sonntag, alle Geschäfte und Zugangstore sind geschlossen. Allerdings ist es kein monolithischer Klotz, sondern recht abwechslungsreich, und die Architektur zitiert an vielen Stellen die Bögen der alten Markthalle – ich muss sagen, nicht so übel.

Ich laufe weiter, vorbei an der Börse zum Louvre. Eine Besichtigung ist mindestens ein Tagesprogramm, daher begnüge ich mich mit der Außenansicht; neben den schmucken Fassaden der Gebäudetrakte und der Innenhöfe sind vor allem die Glaspyramiden des chinesischen Architekten Ieoh Ming Pei, die in der Nachmittagssonne gut zur Geltung kommen. Ebenso wie der kleine Triumpfbogen, der Arc de Triomphe du Carrousel direkt dahinter. Anschließend folgt die Place de la Concorde mit dem ägyptischen Obelisken aus Luxor. Ein beeindruckendes Ding!

Place Vendôme Weiter geht es nach Norden zum Place de la Madeleine; dieser vermeintliche griechische Tempel ist in Wirklichkeit eine Kirche. Dann muss ich mir noch den Place Vendôme anschauen, mit seiner stattlichen Triumphsäule; wie Vieles in dieser Stadt sehr groß und beeindruckend. Cour Saint-Émilion Langsam wird es Abend, und ich habe noch viel vor; auf dem Weg zur Métro-Station Pyramides mache ich noch Zwischenstopp bei Starbucks und futtere eine Kleinigkeit (teuer!), dann geht es per U-Bahn weiter. Hier fährt der Météor, die modernste und führerlose U-Bahn-Linie; und es gibt auch keine klassischen Bahnsteige, sondern Glastüren, die sich – wie bei einem Aufzug – gleichzeitig mit den Türen des Zuges, der dazu zentimetergenau anhält, öffnen. Und man kommt schnell vorwärts; als Münchner sind mir die Pariser Métros immer recht lahm vorgekommen, aber diese Linie ist ähnlich schnell wie die Münchner Züge.

Der Zug bringt mich nach Cour Saint-Émilion, ein Tipp des Reiseführers. Diese ehemalige Industriebrache wurde erst kürzlich hergerichtet; man findet hier alte Lagerhäuser, die zu hübschen Geschäften und Restaurants umgebaut wurden, sowie daran anschließend einen großen Park, mit Bäumen, Wasserflächen und Skulpturen. Eine Brücke in der Mitte führt über eine querende Straße, und ein Stück weiter kann man die Seine samt benachbarter, hinter einem Erdwall liegender Schnellstraße auf einer weiteren Fußgängerbrücke überqueren – hinüber zur französischen Nationalbibliothek, deren Türme mit ihren Glasfassaden in den letzten Sonnenstrahlen der Abendsonne leuchten.

La Villette Vorbei am bunkerartig in die Erde eingegrabenen Stadion von Bercy gehe ich wieder zur Métro und fahre bis La Villette. Dieses ehemalige Schlachthofviertel wurde auch hergerichtet und beherbergt jetzt ein naturwissenschaftliches Museum samt 3D-Kino unter einer silbrigen Kuppel. Als ich diese fotografiere, werde ich auf Deutsch angesprochen, was das denn für ein Gebäude sei. Ich antworte. Der Mann ist ein Tourist aus Schweden, der ein akzentfreies Deutsch spricht und mich angesprochen hat, weil ich auf meinem T-Shirt die Aufschrift Skriptweb.de habe und deshalb Deutscher sein müsse.

Canal de l’Ourcq Über einen Steg, der über den Canal de l’Ourcq und weiter bis an die Porte de Pantin führt, laufe ich nach Süden. Und bekomme Hunger. Hier, an der Métro, gibt es einen Burger King – in dem allerdings lange Menschenschlangen warten. Aber der Dönerstand direkt daneben ist verwaist. Also kaufe ich dort. Zum ersten Mal was Richtiges essen heute. Langsam erhole ich mich. Mit der Métro geht es zurück zum Hostel; mit Zwischenstopp am Canal Saint-Martin. Leider macht der Akku des Fotoapparats dort schlapp. Immerhin halte ich es heute länger durch als der Akku ... im Vergleich zu gestern erhole ich mich gut! Vom Hostel aus mache ich dann noch einmal einen Spaziergang zum Kanal und zum Gare du Nord, kehre aber schon bald wieder zurück (nachdem es nichts mehr zum Fotografieren gibt).

Die Taiwanesinnen sind auch gerade zurückgekehrt. Ich verstehe zuerst nicht, wo sie waren – sie sagen etwas wie „Luf“. Ich brauche etwas, um zu verstehen: sie wollten „Louvre“ sagen. Den ganzen Tag haben sie dort zugebracht. Wow, das ist ausdauernd.

Montag, 27.08.2007: Heimfahrt

ICE und TGV im Gare de l’Est Gegen sechs Uhr stehe ich auf, lade mein Gepäck auf das Fahrrad und rolle gemächlich zum Gare de l’Est, der nur einige Straßen entfernt liegt. Ich bin früh dran; bis zur Abfahrt ist noch eine halbe Stunde, der Zug steht noch nicht bereit. Und ich habe Hunger!

auf der LGV durch Frankreich Dummerweise gibt es im Bahnhof nur ein paar Imbiss-Stände, die nicht viel mehr haben als die üblichen Schinken-Sandwiches – und von diesen habe ich wirklich die Nase voll! Dummerweise hat auf dem Bahnhofsvorplatz und in den benachbarten Straßen noch kein Restaurant offen, nicht einmal eine Fastfood-Bude! Unglaublich, dass man morgens an einem Hauptbahnhof einer Weltstadt nichts vernünftiges zu essen bekommt. So bleibt mir doch nur ein Sandwich.

Rhein-Marne-Kanal Dann fährt der Zug ab; während wir Paris verlassen, geht langsam die Sonne auf. Ich setze mich in den Speisewagen und schaue aus dem Fenster, und döse dann ein. Dann bestaune ich wieder die malerische Landschaft im Elsass mit dem Kanal, und zwei Stunden später sind wir in Stuttgart. Das Umsteigen klappt problemlos, und nach weiteren zwei Stunden bin ich in München. Ich fahre direkt an die Uni – hallo Leute, ich bin wieder da. Aber an diesem Tag bekomme ich nichts mehr auf die Reihe, bin noch zu kaputt.

Fazit und Kritik

Wie ist es gelaufen, was hätte ich anders oder besser machen sollen?

Ausrüstung

Folgendes hatte ich ungefähr dabei (in Liegerad-Satteltaschen von Radical Design, Größe M, aber nicht einmal halbvoll gepackt):