von Christoph Moder
Schiffe und Fortbewegung auf
dem Wasser haben mich schon immer interessiert; nur ist ein Schiff
normalerweise nichts für den Privatgebrauch, und selbst kleine
Boote sind Monster, die mit dem Auto bewegt werden müssen.
Aber geht es nicht kleiner – und doch benutzbar?
Kürzlich habe ich mir ein Faltboot geleistet – konkret
ein „Puffin Kayak“ von Pakboats. Nach zwei
Eintagestouren auf Flüssen wollte ich mehr; und nachdem es
gerade von der Bahn ein Sonderangebot gab, nämlich für
29 € nach Venedig, habe ich zugeschlagen. Trotz dass es
schon Anfang November ist.
Mit der Trambahn fahre ich zum Hauptbahnhof; unterwegs stoppe ich noch im Outdoorladen und kaufen mir 5 m einer dünnen Leine, um mein Boot auch irgendwie festmachen zu können. Noch ist das Wetter warm, aber Niederschläge sind für die nächsten Tage angesagt, also könnte jetzt das kalte graue Herbstwetter beginnen.
Der Zug fährt nicht sehr rasant; er rumpelt
gemächlich dahin, wird immer wieder mal langsam und wartet.
Langsam bewölkt es sich, aber im Süden ist der Himmel
noch frei – von Rosenheim aus hat man einen
wunderschönen Blick auf den Wendelstein. Hinter Innsbruck geht
es dann das Wipptal hinauf – in vielen engen Kurven, und
sanft geschwungene grasbedeckte Hänge leuchten in der
Nachmittagssonne. Obwohl ich hier schon ein paar Mal gefahren bin,
sehe ich diese Strecke zum ersten Mal bei Tag. Bei Matrei
verlässt der Zug den östlichen Hang, es wird ebener; und
bald sind wir am Brenner oben. Nach dem Lokwechsel geht es bald in
einen langen Tunnel, und auch später hinter Brixen gibt es
lange Tunnelabschnitte – die müssen neu sein; vor drei
Jahren kam mir das noch anders vor. Zudem entdecke ich nagelneue
Radwege, offensichtlich z.T. auf der alten Bahntrasse. Und der
Eisack oder auch die Etsch müssten genial zum Kajakfahren
sein. Kurz vor Bozen sind im Osten die Felszacken der Dolomiten zu
sehen. Während in Bayern der Herbst schon längst alle
Bäume braun hat werden lassen, sind hier die Berghänge
noch grün; lediglich die Weinberge im Tal leuchten gelb.
Ab Trento wird das Tal breit und die
Felswände steil, wir fahren durch Weinberge. Dann beginnt es
zu dämmern; hinter Verona kommt eine irritierende Durchsage,
dass die Strecke nach Padua gesperrt ist und alle Leute dorthin
bitte aussteigen sollen. Bis Vicenza ist es ganz dunkel; angeblich
soll unser Zug schon in Mestre enden – was mache ich dann?
Schließlich erreichen wir Treviso, wo der Zug endlos
herumsteht. Hey, das hätte ich mit Ryanair auch haben
können! Dann geht es doch endlich weiter, wenn auch
zäh.
Schließlich komme ich gegen 20:30, mit fast zwei Stunden Verspätung, in Venedig an. Was jetzt? Schließfächer gibt es nicht und die Gepäckaufbewahrung verlangt Mondpreise (3,80 € pro Gepäckstück und Stunde), die Vaporetti verlangen auch einen saftigen Zuschlag für Gepäckstücke – also zu Fuß los mit dem ganzen Gepäck. Erst einmal brauche ich Futter und checke in die Pizzeria „Ae Oche“ ein. Dann ziehe ich weiter – mangels Alternativen zu Fuß. Um zum Campingplatz in Punta Sabbioni zu kommen, ist es jetzt schon reichlich spät, außerdem verkehren die Schiffe dorthin nur von zwei Anlegestellen. Und paddeln traue ich mich bei Dunkelheit nicht; die Sonne ist ja schon vor gut vier Stunden untergegangen, ich wäre in stockdunkler Nacht ohne Orientierung unterwegs.
So gegen 22:00 bin ich dann bei der Kirche
San Marcuola am Canal Grande, und habe keine Lust
mehr zum Tragen. Also baue ich mein Boot auf und verlade mein
Gepäck – den großen Sack hinter den Sitz, den
kleinen Sack an das Fußende, und den leeren Rucksack hinten
obendrauf. Nach einer Stunde bin ich fertig – ab ins Wasser.
Ich bin wieder einmal verblüfft, wie leicht sich der Kahn
trotz Beladung steuert. Über den gut beleuchteten (und auch
von Booten gut frequentierten) Canal Grande paddle ich
dahin, unterbrochen von vereinzelten Fotostopps. Die großen
Vaporetti sind übrigens nicht das Problem; die fahren
langsam und erzeugen wenige Wellen. Aber die Wasser-Taxis fahren
kreuz und quer herum, ich muss andauernd mein Boot richtig
positionieren, damit mich keine Welle von der Seite erwischt und
umkippt.
Schließlich komme ich beim Markusplatz an und möchte anlegen. Gar nicht so einfach, wenn die Wellen beständig gegen das Ufer klatschen und das Boot auf und ab hüpft. Schließlich finde ich eine Gondel-Anlegestelle vor dem Dogenpalast; über deren Holztreppe kann ich aussteigen und das Boot dort festmachen. Weiter geht es zu Fuß – ich laufe zum beeindruckenden Markusplatz und schaue mich um; aber abgesehen von einer Kneipe, aus der laute Musik dröhnt, ist hier tote Hose.
Langsam werde ich müde. Es ist
ja auch schon 1:00 Uhr. Ich gehe zum Boot, hole die Schwimmweste
und den kleinen Packsack heraus, ziehe die Fleece-Jacke an, lege
die Schwimmweste als Kopfkissen hin und schlafe.
Schon gegen 5:30 wache ich auf. Es ist kühl; ich laufe herum, damit mir warm wird. Kreuz und quer durch das Viertel San Marco. Der Wasserstand hat sich deutlich erhöht; mein Boot, das vorher direkt an der Holztreppe festgemacht war, ist jetzt einen Meter von der letzten trockenen Treppenstufe entfernt. Und am Markusplatz bilden sich Pfützen; das Wasser fließt nicht vom Meer aus hinein – nein, es quillt aus den Gullis.
Langsam wird es hell, und die Stadt erwacht.
Venezianer hetzen durch die Gassen, so wie die Pendler morgens zum
Bahnhof. Die ersten Schiffe fahren in den Kanälen; ich sehe,
dass man mit etwas Übung auch mit einem langen Transportschiff
in einem engen Kanal eine südländische Fahrweise
hinkriegt und schwungvoll wendet oder einem entgegen kommenden
Schiff ausweicht. Im Vergleich dazu wirken andere Binnenschiffer
wie Langweiler.
Auch die Tauben werden wach. Nachdem ich sie bisher kaum zu Gesicht bekommen habe, landet plötzlich eine nach der anderen neben mir; sie erhoffen sich wohl Futter. Falsch gedacht. Auf dem Weg zurück zum Markusplatz setze ich mich in ein Café und frühstücke erstmal. Auch hier traut sich eine Taube in das Café und pickt Krümel vom Boden. Draußen schlurft ein Rentner im Trainingsanzug mit der Zeitung unterm Arm vorbei.
Inzwischen ist es hell und die
Sonne scheint. Die ersten Touristen tauchen auf, und bei der
Gondel-Anlegestelle ist jetzt die Kette geöffnet und ein Mann
bereitet alles für das Tagesgeschäft vor. Ja, das ist
mein Gepäck, was da herumliegt. Nein, das könne nicht
dort bleiben. Eigentlich wollte ich noch etwas Sightseeing machen,
aber so verlade ich alles in mein Boot und fahre hinaus. Das macht
Spaß! Erst einmal hinüber zur Insel San Giorgio;
aber die Wellen klatschen gegen den Kai, ich kann nicht anlegen.
Entlang von La Giudecca ist es auch nicht besser; also fahre
ich wieder hinüber zur Hauptinsel und verziehe mich in einen
der kleinen Kanäle von Dorsoduro, wo das Wasser ruhig
und kein Schiffsverkehr ist. Ein Kanal geht sogar unter einer
Kirche durch; die Durchfahrt ist so niedrig, dass außer mir
wohl nicht viele andere Boote durchkommen würden.
Schließlich lande ich am Canal Grande und mache an der Riva del Carbon fest, kurz vor der Rialtobrücke. Und anschließend spaziere ich eine gute Stunde lang durch das Viertel San Polo auf der anderen Seite. Inzwischen hat der Touristenstrom richtig eingesetzt, und auf den kleinen Kanälen schieben sich die Gondeln im Fließbandbetrieb durch. Krass.
Gegen 11:30 mache ich mich wieder
auf den Weg; in den dritten rechten Seitenkanal hinter der
Rialtobrücke, durch bis zum Fondamento Nuove, und
gleich weiter zur Friedhofsinsel San Michele. Wenn
Allerheiligen nicht der richtige Tag ist, diese zu besichtigen! Ich
lege gegen Mittag an der Südwestseite an (schwierig wegen den
Wellen), aber dort ist das Tor geschlossen. Mir bleibt nur ein
Blick durch das Gitter. Und an der Anlegestelle im Nordwesten ist
ein derartiger Schiffsverkehr, dass ich es auch nicht schaffe.
Also weiter nach Murano, wo ich
gleich in den Hauptkanal reinfahre und irgendwo anlege. Dann
erkunde ich die Insel zu Fuß. Im Gegensatz zu Venedig gibt es
hier nur wenige Kanäle und dafür mehr Platz für
Häuser und Straßen. Am Ende dieses kleinen Kanals ragt
ein charakteristischer Turm in den Himmel, und dahinter führt
eine große Eisenbrücke auf die nächste der drei
Inseln, die Murano bilden. Vorbei an der Kirche San Donato
(die als Besonderheit ihre „Schokoladenseite“ nicht
beim Eingang – der wie immer auf der Westseite ist –
hat, sondern auf der dem Wasser zugewandten und damit
repräsentativeren Seite) komme ich in die Außenbezirke.
Hier hört die Bebauung auf, es gibt einen Sportplatz, daneben
etwas Wildwuchs, und eine Neubausiedlung. Die aber sehr
gemütlich aussieht. Irgendwann kommt dann wieder die Sonne
heraus (über Mittag war es bewölkt), und ich sitze
gegenüber vom Leuchtturm.
Eigentlich werde ich müde und könnte eine Pause gebrauchen. Aber mein Tidenkalender sagt, dass wir Niedrigwasser haben und der Wasserstand bald wieder steigt – ich müsste gegen die Strömung paddeln. Also mache ich mich gegen 14:30, nach zwei Stunden Murano, auf den Weg. Dieser ist gar nicht so leicht zu finden, weil ich zwischen den Inseln Vignole und Sant’ Erasmo durchfahren muss, die sich von hier aus überdecken – die Durchfahrt ist nicht zu sehen. Ich kreuze die Linie der Holzdalben, die die Fahrrinne der Schiffe markiert, und fahre auf direkten Weg hinüber in die ungefähre Zielrichtung. Mit so einem flachen Boot brauche ich mich nicht an Fahrwasserbegrenzungen zu halten und bin außerdem weit genug von den Wellen der Schiffe entfernt. Nachteil: Es wird manchmal wirklich sehr flach. Ich sitze fast auf, und sehe links neben mir einen Fischer, der im Wasser steht. Also nicht noch weiter nach links abkürzen.
Auch rund um Vignole wird es
sehr flach, weil ich die Kurve zu eng nehme. Dann will ich direkt
hinüber nach Punta Sabbioni, wo der Campingplatz Miramare ist.
Viel zu spät bemerke ich, dass da neben mir eine
langgestreckte Sandbank aus dem Wasser schaut (kommt davon, wenn
man so tief sitzt) und dass es unter mir auch immer flacher wird.
Ich kann kaum noch die Paddel richtig eintauchen. Schließlich
will ich aussteigen. Dabei lande ich fast im Wasser: Mein Schuh
saugt sich derart im Schlamm fest, dass ich stolpere und mit dem
Knie im Matsch lande. Na gut, nur Wasser im rechten Stiefel.
Paddeln geht nicht, treideln auch nicht (das Wasser ist entweder zu
tief zum bequemen Laufen oder zu flach für das Boot) –
also schleppe ich das Boot mit viel Mühe über die nicht
enden wollende Sandbank und schwöre mir, doch etwas mehr auf
die Fahrrinnen zu achten.
Schließlich komme ich am Ufer an; die dortige Baustelle für das Hochwasserschutzprojekt hat das ganze Ufer mit einem meterhohen Zaun abgesperrt, ich komme nicht heraus und muss weiter zur Schiffsanlegestelle, und dann mein Zeug wieder zurück zum Campingplatz schleppen. Die Sonne hat sich inzwischen zu einer dunkelroten fahlen Scheibe im graublauen dunstigen Himmel aufgelöst. Als mein Zelt steht, ist es auch schon dunkel. Noch ein paar Sachen zum Abendessen zu Mondpreisen im Campingplatz-Supermarkt eingekauft, futtern, und ab ins Bett.
Heute soll es nach Burano
gehen, bei hervorragendem Wetter – Sonne und wolkenfreier
Himmel. Die Richtung ist klar: Nach rechts, immer an Sant’
Erasmo entlang, und dann links. Wegen der gestrigen Erfahrungen
nehme ich mir vor, mich an die Fahrrinne zu halten – bringt
ja nichts, wieder im Schlamm festzusitzen. Der Kirchturm von
Burano ist schon hinter Sant’ Erasmo zu erkennen, in
der Ferne ragen dahinter die Dolomiten in die Höhe – und
wenn ich mich nach links drehe, sehe ich hinter den Bäumen von
Vignole die Kirchtürme von Venedig!
Gegen den leichten Nordwind paddle ich entlang der Holzdalben nach Norden. Hinter dem Ende von Sant’ Erasmo zieht ein Motorboot an mir vorbei und verlässt die Fahrrinne – wenn der das kann, dann kann ich da auch fahren, und steuere geradeaus auf Burano zu, links an den Bäumen der Isola di Crevan vorbei. Wieder viel zu spät entdecke ich, dass der Weg hier nicht frei ist, sondern Sandbänke den Weg versperren. Ein Kanal scheint durch sie hindurch direkt nach Burano zu führen, begrenzt von flachen, mit einer Art Heidekraut bewachsenen Ufern. So muss wohl mal Venedig ausgesehen haben; dann haben die Leute die Ufer mit Mauern befestigt, die Kanäle vertieft, das Land befestigt und bebaut. Leider geht es hier nicht weiter; es wird immer flacher, und ich finde keinen Ausweg. Schließlich dann eine Stelle, wo nur ein sehr schmaler Streifen mich vom tiefen Wasser trennt; ich steige aus, ziehe das Boot ein paar Meter über das Kraut, und steige wieder ein.
In Burano fahre ich in den
Kanal neben der Kirche und lege an. Die Kaimauern sind hier so
angenehm niedrig, dass ich problemlos aussteigen kann. Das
Besondere an dieser Stadt sind die bunten Häuser, die gerade
an einem so strahlend sonnigen Tag wie heute besonders gut zur
Geltung kommen. Ich laufe am Kanal entlang hinter bis fast zur
Tankstelle, dann auf die andere Seite und zwischen den bunten
Wohnhäusern und vorbei am Wasserturm zurück.
Auffällig ist wieder einmal die Affinität der Leute zu
Wäscheleinen; diese sind zwischen den Häusern gespannt
und dazwischen mit Holzstangen, die von schweren Steinen unten am
Wegrutschen gehindert werden, abgestützt werden. Richtig
kunstvolle Konstruktionen.
Nachdem ich den Hauptplatz an der Kirche überquert habe, stoße ich bald auf den nächsten Kanal. Dort wird viel gebaut; das ganze westliche Ufer ist durch Spundwände abgetrennt und wird neu aufgebaut. Über eine etwas verwilderte Wiese und vorbei an einer Sperrmüllhalde komme ich an die Westseite der Insel, wo wieder ein Kanal in die Lagune mündet. Auch hier wird das Ufer erneuert und ist mit Hilfe von Spundwänden trocken gelegt. Ich folge dem Kanal ins Zentrum; kurz bevor er einen scharfen Knick nach links macht, sind viele Touristen in einer Gasse unterwegs. Was es da wohl zu sehen gibt? Nichts Besonderes, es ist nur der Weg zur Schiffsanlegestelle – schon erstaunlich, wie gering die Eindringtiefe der Touristen ist, sie konzentrieren sich auf die wenigen Gassen zwischen Anleger und Zentrum.
Nachdem ich zurück zum Boot
gelaufen bin und mir gegenüber etwas zu essen gekauft habe,
laufe ich nochmal zum Schiffsanleger und weiter über die
Brücke auf die Nachbarinsel Mazzorbo. An der Nordspitze ist
ein kleiner Park mit einer Kirche; ich folge dem Nordufer weiter,
wo es hinter der Mauer um den Park nur ein paar vereinzelte
Häuser gibt, und dann weiter dem Kanal nach links entlang. An
der Südspitze ist wiederum eine Kirche; mit einem stolzen
Turm, aber insgesamt doch romanisch schlicht, in einer etwas
geheimnisvoll-verwilderten Umgebung. Mir fällt der Beichtstuhl
auf, bei dem sich im unteren Teil das Holz teilweise abspreizt
– offensichtlich ist die Kirche schon öfters unter
Wasser gestanden.
Über eine Allee geht es zurück nach Osten und vorbei am Friedhof. Die Gräber stehen dicht an dicht, sind vergleichsweise klein, aber opulent gestaltet – polierter Stein, verschnörkelte Bronzefiguren, und überall Blumen, wenn auch oft aus Plastik. Im hinteren Teil gibt es mehrere Gruftgebäude (Was ist eigentlich der korrekte Begriff dafür?); die Verschlussplatten haben bereits einen Halter für eine Blumenvase und ein Anschlusskabel, um das elektrische Grablicht betreiben zu können. Wie als Kontrastprogramm befindet sich daneben ein Sportplatz und eine Neubausiedlung; die farbigen Häuser mit weichen Rundungen passen jedoch sehr gut zum Charakter der Insel.
Inzwischen steht die Sonne schon
wieder flach im Westen und lässt das Wasser in der Lagune im
Gegenlicht glitzern. Dieses Licht heute, diese Farben! Unglaublich.
Bei der letzten Kirche habe ich eine Karte gesehen mit den
Anlegestellen der Vaporetti; damit weiß ich jetzt, wie man
nach Torcello kommt (der Glockenturm ist von Weitem zu sehen, nur
die Anlegestelle war unklar) – einfach von der Anlegestelle
Burano aus ein paar hundert Meter weiter nach Norden. Das sollte
zeitlich noch drin sein!
Also zurück zum Boot; inzwischen ist der Wasserstand deutlich gefallen, und mein Boot hängt halb in der Luft, weil ich es an einem Ring an der Mauer festgemacht habe, statt beweglich an den Stangen im Kanal, welche mir als zu windig erschienen. (Es gibt kaum Poller oder Ringe an der Mauer, sondern die Leute rammen neben der Kaimauer paarweise Stangen in den Kanal, an denen sie die Boote festmachen, so dass sich diese bei Wasserstandsänderungen nach oben oder unten bewegen können. Die Stangen halten nicht besonders fest – anscheinend ist das nicht nötig, aber sind damit wohl flexibel genug, um Stöße abzufangen. Viele Stangen sind aus Holz, aber es werden auch Metallrohre genommen oder, da jetzt viele Kaimauern erneuert und neue Wasserleitungen verlegt werden, auch Kunststoff-Trinkwasserrohre.)
Ich fahre durch den Kanal auf die Ostseite von
Burano und dann Richtung Torcello, gegen den inzwischen ziemlich
heftigen Seitenwind kämpfend. Bei der Schiffsanlegestelle ist
eine Treppe, wo ich aussteigen und mein Boot an einem Holzpfahl
festmachen kann. Am (für Schiffsverkehr gesperrten) Kanal
entlang geht es zur Kirche; der Kanal wird gerade renoviert, in dem
mit Spundwänden trockengelegten Teil sieht man die alten
gemauerten Kanalwände. Die Basilika ist ein wuchtiger
romanischer Bau, etwas plump, aber gleichzeitig auch sehr
ungekünstelt und authentisch. Ich nehme mir nur Zeit für
den Turm; dieser ist im Grundriss quadratisch, im Inneren
führen Treppen außen herum nach oben, die Mitte ist von
unten bis oben offen. Oben, unter dem Holzdach angekommen, hat man
eine fantastische Sicht über die Lagune, mit ihren
Flachwasserbereichen, Prielen, Inselchen und Kanälen. Laut
Reiseführer begann die Besiedelung der Lagune hier, allerdings
sind später die Einwohner verschwunden und haben nur diese
imposante Basilika auf der ansonsten heute fast unbewohnten Insel
übrig gelassen.
Die Sonne lässt das Wasser im Südwesten glitzern, der Wind hat weiter zugenommen und pfeift recht heftig um den Turm. Ich muss los; unten fallen mir noch die steinernen (!) Fensterläden der Basilika auf, und ich werfe noch einen Blick in die benachbarte Kirche Santa Fosca.
Zurück am Boot pfeift mir der Wind voll
entgegen, sobald ich den Windschatten der Insel verlasse. Ich
kämpfe gegen Wind und Wellen an – nicht kritisch, aber
der Bug taucht spritzend in die Wellen ein, und der Wind weht einem
das Wasser ins Gesicht. Aber es macht schon Spaß. Nach
zwanzig Minuten habe ich es geschafft, ich bin um die
Sandbänke herum, und kann etwas abfallen. Wobei Seitenwind
(oder besser gesagt: Wellen von der Seite) immer noch ätzend
ist, weil das Boot dadurch schwer auf Kurs zu halten ist. Nach
einer weiteren halben Stunde bin ich vor dem nächsten Ufer
– hier irgendwo muss ich hin, aber alles sieht so ungewohnt
aus. Der GPS-Track zeigt jedoch, dass ich richtig bin; ich muss nur
weiter dem Ufer folgen. Dumm, dass es hier keinerlei Landmarken
gibt – alles sieht so gleich aus, die Cavallino-Halbinsel
genauso wie Sant’ Erasmo, flaches Ufer mit nichtssagendem Bewuchs
oder Bebauung. Aber ich bin schon richtig; es ist zwar ätzend,
mit Rückenwind zu paddeln (weil man schneller als die Wellen
sein muss, um nicht von ihnen überholt und gedreht zu werden),
aber ich komme wohl gut vorwärts. Zwei Stunden wie beim Hinweg
habe ich jedenfalls nicht gebraucht, trotz längerem Weg durch
die Fahrrinne.
Als ich aufstehe, ist es saukalt.
Kein Wunder, die ganze Nacht über wehte dieser eiskalte Wind,
und bei sternklarem Himmel wird das über Nacht schon ziemlich
frisch. Auch wenn es bereits ab 7:00 Uhr hell ist, brauchen die
wärmenden Sonnenstrahlen noch eine Weile.
Wohin heute? Nach Venedig komme ich morgen sowieso; Sant’ Erasmo und Le Vignole haben wohl nicht so viel zu bieten – also erst mal nach Lido und dann schauen, wie es weitergeht. Nach Chioggia wollte ich schon seit Längerem.
Aber noch ist es zu kalt. Ich hocke
mich in den Aufenthaltsraum, trinke einen Kaffee, aber mir wird
einfach nicht so richtig warm. Bis ich loskomme, ist es 9:30; ich
schleppe mein Boot zur Anlegestelle und paddle hinaus. Der Wind
weht immer noch – zwar schwächer als gestern Nachmittag,
aber trotzdem spürbar. Ich packe meinen Lenkdrachen aus
– vielleicht kann ich mich von ihm ziehen lassen? Aber
dafür reicht der Wind dann doch nicht aus. Ich sehe schon,
für sowas braucht man einen richtig großen Drachen. Und
zwar einen Einleiner, weil man sonst keine Hände frei hat zum
Steuern. Egal, dann muss ich eben paddeln.
Dank Hochwasser sind keine
Sandbänke zu sehen, ich kann geradeaus Richtung Lido steuern;
allerdings sorgen die Wellen dafür, dass ich kaum die Richtung
halten kann – im Gegensatz zu gestern schaffe ich es nicht,
mit den Wellen mitzuhalten, vermutlich wegen des schwächeren
Rückenwindes. Ätzend. Schließlich erreiche ich
Lido; ich will mich nicht weiter bis zur Schiffsanlegestelle
kämpfen, sondern bei der erstbesten Gelegenheit aussteigen
– an einer Rampe vor einem Gebäude der Carabinieri. Zum
Anlegen ist das perfekt; allerdings ist der Boden so rutschig, dass
ich kaum aufwärts laufen kann, und als ich noch einmal
hinunter laufe, haut es mich auf die Fresse. Ein unsichtbarer
Belag, wirklich spiegelglatt.
Und jetzt? Zu Fuß laufe ich ins Zentrum. Auf dieser Insel gibt es Autoverkehr, also ist alles nicht mehr so klein, hübsch und nah, sondern die Entfernungen sind groß. Vorbei an einem versteckt liegenden ehemaligen jüdischen Friedhof laufe ich in die Stadt; ich überquere ein paar Kanäle, die aber bei weitem nicht so hübsch sind wie jene auf den Laguneninseln – dort sind sie Lebensadern und Mittelpunkte, hier nur nutzlose Straßenunterquerungen.
Laut Reiseführer gibt es einen
Fahrradverleih; aber bis ich ihn gefunden habe, dauert es schon
eine ganze Weile. Das Fahrrad ist zwar eine alte Möhre mit
simpler Gangschaltung und wenig Luft in den Reifen, aber wenigstens
funktioniert alles. Ich fahre nochmal zurück zum Boot, packe
ein paar Sachen in den Korb, und radle dann los nach Süden.
Malamocco soll ein hübsches Dorf sein; ich fahre hinein, ja,
nette Kirche, verschlafene Häuser – habe ich was
verpasst? Nochmal zurück auf dem Deich an der Seeseite, aber
dort ist auch kein hübsches Dorf zu sehen, sondern zurück
bis Lido nur Wohnblöcke. An den prächtigen Strandhotels
von Lido drehe ich um; die hoteleigenen Boote können, von
Venedig kommend, auf einem kleinen Kanal durch die Insel bis vor
das Hotel fahren – schon nicht schlecht!
Auf der Hauptstraße geht es wieder nach Süden, nochmal vorbei an Malamocco, und weiter bis zum Fähranleger von Alberoni. Soll ich hier jetzt nach Pellestrina übersetzen, und von dort aus weiter nach Chioggia? Eigentlich nein, es wird einfach zu spät; es ist schon halb zwei. Und Pellestrina soll noch langweiliger und dünner besiedelt als der südliche Teil von Lido sein. Also wieder zurück. In Alberoni werfe ich noch einmal einen Blick auf die Einfahrt zum Golfplatz, der hinter den dicken Mauern einer ehemaligen Festung liegt; und dann geht es zurück in den Ort Lido.
Weil der Fahrradverleih noch
geschlossen hat, nutze ich die Zeit und gehe im Supermarkt
einkaufen – um wenigstens teilweise die Mondpreise der
anderen Verkaufsstellen vermeiden zu können. Dafür muss
ich mit der italienischen Gemütlichkeit an der Kasse leben
– die Schlangen sind lang, aber niemand drängelt, die
Leute vor mir packen in Seelenruhe ihren Rieseneinkauf auf das
Band.
Nachdem ich das Fahrrad zurückgegeben habe, marschiere ich wieder zurück zum Boot, setze mich erst einmal auf eine Bank und esse etwas. Die Sonne wärmt angenehm, es ist fast windstill, der eiskalte Nordwind ist verstummt. Was nun? Nachdem Lido etwas enttäuschend war – zumindest im Vergleich zu Venedig und den anderen Laguneninseln –, steige ich ins Boot und mache mich auf den Weg zum Campingplatz.
Aber so leicht lässt mich die
Lagune nicht ziehen. Das Wasser ist fast glatt, es ist eine
wunderbare Abendstimmung, und ich fahre an den doch sehr fotogenen
Holzdalben östlich von Vignole entlang. Weil fast
Niedrigwasser herrscht, muss ich wieder einen großen Umweg um
die Sandbänke fahren; einmal sehe ich scheinbar einen Kanal
zwischen zwei Sandbänken und hoffe, dazwischen durchfahren zu
können, aber dann wird es doch zu seicht – auf der
nördlichen Seite ist die Wasseroberfläche nur deshalb
gerippelt, weil es die Luvseite ist, und nicht, weil es dort tiefer
ist. Auf der Sandbank stehen zwei Leute mit ihrem Boot; die Frau
spricht mich an, aber leider verstehe ich ihr Italienisch
nicht.
Inzwischen inszeniert sich ein grandioser Sonnenuntergang. Nicht wie vorgestern, wo sich die Sonne im Dunst aufgelöst hat, sondern sie senkt sich unter dem strahlend blauen Himmel auf den Horizont, und das Wasser erscheint, wo die sanften Wellen nicht die goldenen Strahlen reflektieren, bläulich leuchtend. Richtig kitschig! Ich lasse mich treiben, ich habe Zeit; die Fährschiffe dagegen ziehen hastig vorbei.
Inzwischen bin ich nahe bei dem
Baggerschiff angekommen, das die künstliche Insel zum
Hochwasserschutz in der Lagunenmündung aufschüttet.
Über dem Schiff türmen sich rot leuchtende Wolkenberge,
die nach dem Sonnenuntergang schnell ausbleichen und nur noch einen
fliederfarbenen Ton im Himmel darüber hinterlassen; daneben
ist der fast volle Mond bereits aufgegangen.
In der Dämmerung erreiche ich die Anlegestelle und bringe mein Boot an Land. Ein Italiener beobachtet mich und fragt mich, ob mir nicht kalt sei. Nein, ganz angenehm. Er fühlt, ob ich einen dicken Pulli anhabe – nein, er ist nur ganz dünn, trotzdem ist mir wirklich warm genug. Kann er einfach nicht glauben.
Um Viertel nach sieben stehe ich
auf und packe mein Zelt zusammen. Der Kaltlufteinbruch ist
anscheinend vorbei; weil die Sonne noch nicht auf das Gelände
scheint, habe ich meine Fleece-Jacke an, aber es ist nicht
unangenehm. Gegen acht Uhr habe ich mein Gepäck fertig
hergerichtet; die Rezeption hat jetzt offen und ich kann
auschecken. Der Mann an der Rezeption fragt mich, ob ich nicht sehr
gefroren habe – nein, im warmen Schlafsack war es wirklich
nicht unangenehm. Glaubt mir wohl keiner, weil ich wohl das einzige
Zelt auf dem gesamten Platz hatte – und dazu noch ein extrem
winziges. Alle anderen Leute kamen mit fetten Wohnmobilen.
Dann fragt er noch, wo ich mein Auto habe. Nein, ich habe kein Auto, ich bin von Venedig aus mit dem Boot gekommen. Ja, aber wo würde ich denn dort parken? Nein, ich parke nicht, ich bin mit dem Zug gekommen. Das hat er wohl nicht erwartet; scheint reichlich unüblich zu sein.
Aber er hat recht, dass es momentan
ungünstig ist mit der Baustelle am Wasser. Ich brauche eine
halbe Stunde, bis ich mein Boot und mein Gepäck zum Anleger
geschafft habe; um Viertel nach neun habe ich dann alles verstaut
und kann in See stechen. Es wird warm; ich muss meine Jacke
ausziehen, und auch die Handschuhe sind mir zu warm.
Zum Glück ist wieder Hochwasser, und ich kann den geraden Weg Richtung Lido/Vignole nehmen. Nach rund einer Stunde paddeln bin ich dann bei La Certosa (die Insel scheint an diesem Eck eher ein Schrottplatz zu sein) und quere hinüber nach Venedig – was gar nicht so einfach ist. Heavy Traffic! Hier heizt ein Wassertaxi nach dem anderen vorbei, immer Full Speed, Hebel auf den Tisch. Ich kämpfe mich durch und biege rechts vom Yachthafen, hinter dem Parkplatz der Autofähre, in den Rio di Quintavalle, und weiter hinter der Holzbrücke nach links in den Rio di Sant’ Anna. Dort geht es bald nicht mehr weiter; bei einem schwimmenden Gemüseladen endet der Kanal. Also nach rechts bis zur beeindruckenden Mauer des Arsenale und dann nach links in den Rio della Tana. Auch hier, direkt gegenüber der strengen Mauer dieses Symbols venezianischer Macht, hängen die Leute ihre Wäsche draußen über den Kanal auf, oder an Konstruktionen, die die Wäscheleine mit einer Holzstange als Ausleger von der Fassade wegspannt. Ich zögere, weil bei diesem Kanal ein „Einfahrt verboten“-Schild steht. Aber die Venezianer halten sich auch nicht dran. Also rein.
Leider gibt es keine
Kanalverbindung in die Innenstadt, ich komme wieder in der Lagune
raus, und fahre gleich in den nächsten Kanal, den Rio dell’
Arsenale, wieder rein. Vor mir befindet sich die Einfahrt zum
Arsenale, mit beeindruckenden Türmen auf beiden Seiten. Laut
Karte geht der Kanal nach links weiter; allerdings ist die
Brücke so niedrig, dass man mit dem Boot nicht durchkommt.
Also anlegen. Bei einer breiten Treppe gehe ich an Land und hebe
das Boot aus dem Wasser (kein Problem bei dem hohen Wasserstand).
Zwei Uniformierte hissen gerade eine Fahne (das Arsenale ist immer
noch militärisches Sperrgebiet); ich frage sie, ob ich mein
Boot dort stehen lassen kann. Für eine Stunde. Nein, das
würde nicht gehen. Aber sie wissen auch nicht wohin. Ich bin
ratlos. Schließlich nehme ich das Boot, bringe es zurück
ins Wasser und binde es neben der Brücke an. Hier steht es
zumindest nicht offen herum, sondern man sieht es nur, wenn man
direkt davor steht. Und ein Zettel hinein, dass ich um zwölf
Uhr wieder zurück bin.
Flotten Schrittes laufe ich zum
Markusplatz, um noch schnell einen Blick vom Campanile zu bekommen.
Aber überall warten lange Menschenschlangen auf Einlass. Damit
hätte ich nicht gerechnet – das letzte Mal, früh
morgens, war hier alles so verlassen, dass man sich einen solchen
Andrang nicht vorstellen konnte. Also schnell wieder zurück;
unterwegs kaufe ich noch eine Flasche Cola zum Mondpreis und bin um
Viertel vor zwölf zurück am Boot. Niemand hat gemeckert;
anscheinend konnten mir die Militärs zwar keine offizielle Erlaubnis
geben, aber zumindest das Boot kurzzeitig ignorieren. Ich ziehe
wieder meine Regenhose, die Paddlerstrümpfe und die
Schwimmweste an und fahre hinaus.
Gegen den heftigen Bootsverkehr und den entsprechenden Wellen kämpfe ich mich bis zum Canal Grande – 20 Minuten brauche ich dafür, die Zeit wird knapp. Dann links in den Rio di Ca’ Fóscari, um die Schleife des Canal Grande abzukürzen. Wenigstens hier hoffe ich, vom Bootsverkehr verschont zu bleiben, denn die Wellen sind echt schlimm, man kann nicht mehr Kurs halten. Ein Taxibootfahrer hupt mich an und weist mich darauf hin, dass hier Linksverkehr ist – danke, aber wie soll ich das wissen? Aber es hilft nichts; bei der nächsten Bootsbegegnung werde ich vom überholenden Boot einfach gerammt. Rücksicht ist was Anderes. (Fairerweise muss ich erwähnen, dass ein Teil der Boote extra langsam fährt (d.h. sich ausnahmsweise an die Geschwindigkeitslimits hält), wenn sie mich überholen.)
Dann bin ich am Bahnhof, kurz nach halb eins. In einer knappen Stunde geht mein Zug. Links neben dem Bahnhof sind Holztreppen; dort lege ich an, räume das Boot aus, ziehe es aus dem Wasser, zerlege es und verpacke mein ganzes Zeug. Fünfzehn Minuten vor Abfahrt sitze ich dann im Zug. Geschafft!
Bei der Rückfahrt geht diesmal alles gut; bis Verona ist die Landschaft langweilig. Nach Trento fällt mir zum ersten Mal auf, dass hier eine Schmalspurbahn verläuft. Am Brenner liegt Schnee – das wundert mich nicht; wohl aber die Tatsache, dass bis Rosenheim Schnee neben den Gleisen liegt. Mit mir im Abteil sitzt ein Italiener aus Bibione, der einen Freund bei Ulm besucht, und ein Mädel aus Passau, die eine Freundin in Italien besucht hat – sie unterhalten sich auf Italienisch, und ich kann weitgehend folgen; um mitzureden, muss ich allerdings englisch sprechen.
Ist es eine gute Idee?
Eigentlich lohnt es sich nicht, weil der Vaporetto-Verkehr derart gut ausgebaut ist, dass man schnell überall hinkommt. Zudem sind gerade Tageskarten relativ günstig.
In Venedig selber kann man sich komplett zu Fuß bewegen, und wenn man etwas weitere Wege in Kauf nimmt, erreicht man auch Winkel, in die kaum Touristen vorstoßen. Dazu braucht man kein Boot. Die Kanäle haben eher die Funktion von Transportwegen; sie trennen die Fußgänger vom Gütertransport und ermöglichen, dass diese lebhafte Stadt komplett fußgängergerecht und autofrei sein kann. Mit einem eigenen Boot bekommt man lediglich Perspektiven, die ansonsten nur die Einheimischen haben, man sieht Rückansichten, zu denen kein Fußweg führt.
Nervig ist auch, dass selbst ein kleines Boot viel Gepäck bei der An-/Abreise bedeutet.
Außerdem gibt es, wie erwähnt, kaum geeignete Anlegestellen; man muss sich schon gut überlegen, wo man aussteigen kann und wo man sein Boot alleine lassen will. Der Bootsverkehr ist fest in der Hand der Venezianer; praktisch kein Fremder ist mit eigenem Boot in den Kanälen unterwegs, und das scheint im venezianischen Verkehrskonzept auch gar nicht vorgesehen zu sein; selbst die Befahrungsregelungen etc. sind anscheinend kaum öffentlich verfügbar, höchstens in italienischen Amtsblättern. Man kennt sie, oder wird sie nie erfahren. Man fühlt sich als Außenseiter in einem Spiel, in dem die Rollen längst verteilt sind.
Zu erwähnen ist auch, dass ich immer mit Abstand das kleinste Boot hatte. Selbst die so grazil wirkenden Gondeln sind im Vergleich zu einem Kajak wahre Schlachtschiffe.
Aber nur mit dem eigenen Boot kann man die Fahrrinne verlassen, die Flachwasserbereiche erkunden, sich treiben lassen, den Sonnenuntergang auf dem Wasser genießen, durch die engsten Kanäle Venedigs steuern ... eben was man alles für Geld nicht kaufen kann.
Sonstiges:
Die Gezeiten sind schon spürbar, allerdings empfand ich die Strömung zu keinem Zeitpunkt als stark, ich kam immer locker dagegen an. Gut, ich habe auch darauf geachtet, nicht zu den Zeiten der größten Strömung unterwegs zu sein. (Eine Faustregel sagt: In der ersten Stunde nach dem Maximal-/Minimalstand ändert sich der Wasserstand um 1/12, in der zweiten um 2/12, in der dritten und vierten um 3/12, und dann wieder um 2/12 und 1/12. Also die dritten und vierten Stunden meiden.) Gezeitentabellen kann man sich hier berechnen lassen.
Großen Einfluss haben Wind und (davon abhängig) Wellen.
Sicherheit: Ich habe immer eine
Schwimmweste getragen – keine Ahnung, ob das viel hilft.
Zumindest war das Wasser immer schön warm; vielleicht der
wichtigere Faktor. Die größte Gefahr ist wohl, dass man
auskühlt und dabei so entkräftet wird, dass man es nicht
mehr zum Ufer schafft. Auch wenn die Lagune oft flach ist –
der Weg zum Ufer ist meist weit, eine halbe Stunde muss man
mindestens durchhalten.
Unsicher habe ich mich auf jeden Fall nicht gefühlt; beim Ein-
und Aussteigen könnte es schon mal passieren, dass man
reinfällt, aber im Boot sitzend kam es zu keiner auch nur
halbwegs kritischen Situation. Man muss eben darauf achten,
große Wellen (z.B. von einem Schiff) immer mit dem Bug zu
nehmen, statt quer.
Ein Campingplatz ist zwar an sich
eine gute Idee, allerdings sind die Campingplätze alle auf der
Halbinsel von Cavallino, also etwas abgelegen. Meiner war da schon
der beste. Und in Mestre, zwischen der Industrie, will man erst
recht nicht wohnen. Wenn es kein Camping sein muss, könnte
Lido eine guter Stützpunkt sein. Oder die Jugendherberge auf
La Giudecca.
Update: Es gibt auch auf Lido einen Campingplatz, der jedoch
eher ein Geheimtipp ist: Camping San Nicolò